Angesichts der katastrophalen Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen haben Spanien, Irland und Norwegen letzte Woche angekündigt, ab 28.5. den Staat Palästina anzuerkennen, und betont, daß eine politische Lösung für Israelis und Palästinenser nötig ist. Israel hat daraufhin umgehend seine Botschafter aus den drei Ländern zu „Konsultationen“ zurückgerufen.
Israels Reaktion wurde von dem EU-Chefdiplomaten Josep Borrell in einem Interview mit dem spanischen Fernsehen angeprangert: „Jedesmal, wenn jemand die Entscheidung trifft, den Aufbau eines palästinensischen Staates zu unterstützen - etwas, das alle in Europa unterstützen -, reagiert Israel mit dem Vorwurf des Antisemitismus.“ Ministerpräsident Netanjahus Antisemitismus-Vorwurf gegen den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs sei inakzeptabel: „Ich bitte alle, angefangen bei der israelischen Regierung, aber auch einige europäische Regierungen, die Richter nicht einzuschüchtern, sie nicht zu bedrohen.“
Bei der Europäischen Kommission protestierten mehr als 200 EU-Mitarbeiter am 24.5. in einem Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und andere mit der Überschrift „Nicht in unserem Namen“. Sie warnen, die „anhaltende Gleichgültigkeit der EU gegenüber der Not der Palästinenser“ berge das Risiko, „den Aufstieg einer Weltordnung zur Normalität zu machen, in der rohe Gewaltanwendung“ zum Gesetz werde. Sie rufen die EU auf, offiziell einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand zu fordern und direkte und indirekte Waffenexporte aus EU-Staaten nach Israel zu stoppen.
Auch in Deutschland hört man allmählich andere Töne. Auf dem „Demokratiefest“ am 26.5. in Berlin sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck: „Selbstverständlich muß Israel sich an das Völkerrecht halten. Und die Hungersnot, das Leid der palästinensischen Bevölkerung, die Angriffe im Gazastreifen sind - wie wir jetzt auch ja gerichtlich sehen - mit dem Völkerrecht nicht vereinbar... Das heißt, es ist in der Tat so, daß Israel dort Grenzen überschritten hat, und das darf es nicht tun.“ Einige Tage zuvor hatte Bundeskanzler Scholz Israel vor einem militärischen Angriff auf Rafah gewarnt, der eine geopolitische Katastrophe in der Region auslösen und „böse enden“ würde.
Die beiden Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof und dem Internationalen Gerichtshof haben offenbar Wirkung auf die Regierung in Berlin. Und sie beflügeln die Proteste an den Universitäten, die trotz repressiver Verwaltungsentscheidungen und massiver Polizeieinsätze weitergehen. In Berlin haben über 100 Professoren und sogar die Präsidentin der Humboldt-Universität das Protestcamp verteidigt. In München hob das Amtsgericht das Verbot eines Protestcamps an der Universität auf, und in Potsdam entschied ein Gericht am 16.5., daß das Einreiseverbot für den renommierten britisch-palästinensischen Mediziner Gassan Abu Sitta vor einigen Wochen am Berliner Flughafen rechtswidrig war. Sitta war zu einem Kongreß über Gaza eingeladen, mußte jedoch unverrichteter Dinge nach London zurückfliegen.
In den USA erschüttern die Gaza-Proteste das politische Establishment. Die Proteste gegen die Unterstützung der USA für Israels Politik der verbrannten Erde gegen die Palästinenser haben sich am Wochenende bei Abschlußfeiern an vielen Universitäten fortgesetzt. Besonders unangenehm für die Universitätsleitungen und Kuratoren ist die hartnäckige Forderung, daß die Universitäten offenlegen, wo ihre großen Stiftungsgelder investiert sind, und Investitionen in Firmen des Militärisch-Industriellen Komplexes und/oder mit Verbindungen zu Militär und Konzernen in Israel abziehen.
Die Entscheidungen des IStGH und IGH der vergangenen Woche waren zweifellos ein Thema für die Studenten, die im ganzen Land bei Abschlußfeiern protestierten. Mehr als tausend Studenten verließen aus Protest die Feier in Harvard, weil die Hochschule 13 protestierenden Studenten ihre Diplome verweigert, und in Kalifornien bejubelten Absolventen die Rednerin, die nicht zu ihnen sprechen durfte, weil ihr Einsatz für die Palästinenser angeblich antisemitisch sei.
Die Aktionen in Harvard waren für die Zensur-Befürworter besonders beunruhigend. Auf einem großen Transparent der Studenten stand „Harvard raus aus dem besetzten Palästina“, auf einem anderen schlicht „Stoppt den Völkermord“. Viele sind schockiert über die Mißachtung der Redefreiheit und des „Rechts auf zivilen Ungehorsam“ auf dem Campus, wie es ein Absolvent ausdrückte. Das Kuratorium widersetzt sich stur den Forderungen der Studenten nach Transparenz und Desinvestition, ebenso wie die Verwalter der meisten der etwa 130 Universitäten, an denen es Demonstrationen gab.
Die Kriegslobby fürchtet offenbar, daß die Leidenschaft der jungen Menschen für Gerechtigkeit die breite Bevölkerung ansteckt. Politico berichtet, im Parteivorstand der Demokraten (DNC) sei man „über Proteste zunehmend besorgt“ und fürchte, daß „die Geister von 1968“ den diesjährigen Parteitag einholen. Man arbeite mit den Geheimdiensten und der Polizei von Chicago zusammen, um eine Neuauflage der Unruhen gegen den Vietnamkrieg von 1968 zu verhindern, die den Demokraten bei der Präsidentschaftswahl in jenem Jahr eine Katastrophe bereiteten.
Solange das Establishment vor allem damit beschäftigt ist, seine eigene Haut zu retten, wird es keine Hoffnung für die Menschen geben. Deshalb muß es eine umfassende, internationale Mobilisierung für das Recht auf Leben und Zukunft aller Menschen der Region geben!