Wilhelm von Kardorff
Nationaler Reichtum beruht laut Carey auf der hervorragenden, vervollkommneten Herrschaft eines Volkes über die unentgeltlichen Kräfte der Natur.
In je höherem Grade eine Nation
Aber eben nur auf der Kombination dieser Voraussetzungen beruht die Möglichkeit eines solchen Vorauseilens. Länder mit einer Vegetationskraft, welche die reichen Erträge des Grund und Bodens sichert und mit einer Fülle mineralischer Schätze wie Peru, Indien, Mexiko, die Türkei sind arme Länder im Verhältnisse zu Frankreich, England, den Nordamerikanischen Freistaaten und Deutschland, weil es ihnen entweder an den vervollkommneten Werkzeugen (Kapital) fehlt, um die Dampfkraft, den elektrischen Funken sich in gleichem Maße dienstbar machen zu können, wie die zivilisierten Nationen, oder weil die intellektuelle Ausbildung eines Volkes – sei es durch die Ungunst eines die regelmäßige Arbeit hindernden Klimas, sei es durch politische Verhältnisse – eine verkümmerte geblieben ist. Spanien verarmte, als die Schätze Mexikos und Perus in das Land strömten, weil eine fanatische Regierung gleichzeitig seine gewerbfleißige maurische Einwohnerschaft mit Feuer und Schwer vertilgte und den Rest des Volkes gewaltsam in Unwissenheit erhielt – und umgekehrt wieder werden Norwegen, Schweden, Kanada bei aller Emsigkeit und Intelligenz ihrer Bewohner und günstiger politischer Entwicklung schwerlich jemals zu dem Wohlstande gelangen, welchen sie durch ein glücklicheres Klima und eine reichere Produktionskraft ihres Bodens bevorzugten Länder aufweisen. Aber selbst unter den Nationen, welche wie England, Frankreich, die Nordamerikanischen Freistaaten und Deutschland annähernd gleiche Vorbedingungen für die Entwicklung nationalen Wohlstandes zeigen, ist der Fortschritt in dieser Richtung kein gleichmäßiger, auch kein stetiger innerhalb der einzelnen Staaten.
Die Aufgabe dieser Betrachtungen soll es sein, die Ursachen zu erforschen, welche diese Ungleichmäßigkeiten und Schwankungen nach sich ziehen, und speziell für unser deutsches Vaterland nachzuweisen, wie die schwere wirtschaftliche Krisis, an welcher wir kranken, eine notwendige Folge ist von Vorgängen, welche noch überall zu denselben Resultaten geführt haben.
Die Vorfrage, ob überhaupt nationaler Reichtum ein unter allen Umständen zu erstrebendes Ziel, gehört vielleicht in höherem Maße dem spekulativen Gebiet an, als dem praktisch politischen – aber die geschichtlichen Erfahrungen der alten Welt und die Tatsache, daß arme Länder, wie z.B. Norwegen sich einer glücklichen Entwicklung erfreuen und an den Kulturfortschritten der anderen Nationen immerhin Teil zu nehmen vermögen, geben sicher das Recht, eine Frage aufzuwerfen, an deren Verneinung ja das Interesse an weiteren Untersuchungen über die Erwerbung und den Verlust nationalen Wohlstandes wenn nicht völlig ertötet, doch wesentlich abgeschwächt werden würde. Büßte doch Lacedaemon seine Kraft ein, als die Spartiaten die Reichtümer Asiens kennen und genießen lernten, verfiel doch das römische Italien, als die Schätze der gesamten alten Welt nach Rom strömten, und bietet doch die ganze Geschichte des Altertums das immer wiederkehrende Beispiel, daß die reichen Völker in Üppigkeit und Wohlstand verweichlichten und ihre Macht an ärmere, rauhere und unzivilisiertere Stämme verloren! Sollte am Ende der Spruch der heiligen Schrift: „Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Himmelreich komme“, auch auf die Nationen und ihre politischen Geschicke seine Anwendung finden?
Höchst eigentümlich und wie mir scheinen will, charakteristisch englisch ist die Argumentation, mittels derer einer der größten Forscher auf dem Gebiete der Kulturgeschichte, Buckle1 die Notwendigkeit des Reichtums für ein Kulturvolk nachzuweisen sucht. Nur durch Ansammlung von Reichtum – deduziert er – ist die Bildung einer intelligenten Klasse innerhalb einer Nation möglich, welche nicht selbst Lebensbedürfnisse produziert, sondern das verbraucht, was die anderen produzieren und dadurch die Muße erhält, die Kenntnisse zu erwerben, auf deren stetiger Fortentwicklung aller Fortschritt der menschlichen Gesellschaft überhaupt beruht: ohne Reichtum gibt es keine Muße, ohne Muße keine Wissenschaft. So Buckle. Aber so bestechend die Richtigkeit dieser Deduktion erscheinen mag, so dürfte sie die Frage doch kaum erschöpfen. Abgesehen davon, daß die Bucklesche Scheidung zwischen beschäftigten und unbeschäftigten Klassen schwerlich genau zu ziehen sein wird; daß wir fortwährend hervorragende wissenschaftliche Leistungen Männern verdanken, welche ihren Lebensunterhalt sich durch tägliche Arbeit erkämpfen müssen; daß nach der Lehre der bedeutendsten Nationalökonomen (Adam Smith, Say, etc.) die Fortschritte der Wissenschaft mittelbar immer wieder der materiellen Produktion zugute kommen, also füglich als Teil der nationalen Gesamtproduktion angesehen werden müssen, scheint Careys Hinweis doch der berechtigtere2 und treffendere zu sein, daß nur mittelst der vervollkommneten Werkzeuge, also nur mittelst des angesammelten Kapitals, eine erhöhte Macht den Menschen über die unentgeltlichen Dienste der Natur ermöglicht wird. Denn sobald man überhaupt nur anerkennt, daß die Bestimmung des Menschengeschlechtes mit in der Unterwerfung dieser Naturkräfte liegt, wird man weiter schließen müssen, daß der Reichtum für jede Nation ein an und für sich zu erstrebendes Ziel und identisch ist mit der Steigerung der Herrschaft derselben über die Kräfte der Natur.
Hält man diesen Gedanken fest, vergegenwärtigt man sich, daß zur Erreichung dieses Zieles die angespannteste, ausdauerndste Arbeit der Nation notwendig ist; daß diese wiederum die stetige Kräftigung und Veredlung des sittlichen Charakters derselben zur Voraussetzung hat, so wird man das Streben nach nationalem Reichtum schwerlich als eine Gefahr für den modernen Staat ansehen können. Man wird sich sagen müssen, daß der Reichtum der antiken Welt, der das Verderben der Staaten wurde, nur ein scheinbarer, trügerischer und vorübergehender sein mußte, weil er jederzeit die Waffenausdehnung der Sklaverei und somit die Arbeitsscheu und Demoralisation der herrschenden Völker mit sich brachte – während umgekehrt in den modernen, zivilisierten Staaten die Zunahme des Wohlstandes durchschnittlich regelmäßig die Zunahme des Produktionsfleißes zur Folge hat und die Zunahme der Freiheit.
Aber nationaler Reichtum ist heute auch eine Voraussetzung nationaler Macht. Mögen Nationen, welche sich nicht berufen fühlen, einen bestimmenden Einfluß auf die Geschicke der zivilisierten Welt auszuüben, welche durch ihre geographische Lage vor den Einmischungen mächtiger Nachbarvölker geschützt sind, auf den Erwerb nationalen Reichtums verzichten – für eine Nation wie die deutsche, ist ein Zurückbleiben im nationalen Wohlstande gleichbedeutend mit den Aufgaben derjenigen Machtstellung, welche sie mit gewaltigen Anstrengungen in heißeste blutigsten Kampfe errang, gleichbedeutend mit Wiederherstellung des unheilvollen Einflusses, den das Ausland Jahrhunderte lang auf die Entwicklung unseres Vaterlandes geltend zu machen wußte.
Zu einer Zeit, in welcher meine Beurteilung volkswirtschaftlicher Fragen noch eine so naive war, wie sie zu sein pflegt, wenn man auf der Universität ein nationalökonomisches Kolleg gehört, sich die Werke von einem Dutzend Autoren von Adam Smith, Ricardo und Say bis auf Bastiat und Stuart Mill angeschafft, und im dritten Verwaltungsexamen einige neugierige Fragen der Examinatoren glücklich beantwortet hat: – zu dieser Zeit würde mir nun nichts leichter erschienen sein, als die Beantwortung der weiteren Frage, welche Finanz- und Handelspolitik ein Staat treiben müsse, um seine Angehörigen im hervorragendensten Maße zu jener Herrschaft über die unentgeldlichen Kräfte der Natur, auf welcher der nationale Reichtum beruht, zu befähigen.
Zu jener Zeit war ich Manchestermann vom reinsten Wasser. Die Ricardo-Bastiat-Cobdenschen Theorien schienen mir ein so untrügliches Rezept für alle Fälle zu enthalten, daß mir jedes Verständnis für abweichende Meinungen völlig abging. Daß diese Theorien nicht in allen Ländern längst praktisch verwirklicht waren, erschien mir eigentlich kaum erklärlich. Die Adam Smithschen Lehren von der Handelsbilanz erschienen mir so unumstößlich, wie die Ricardosche Grundrententheorie, und meine Überzeugung, daß England seinen überlegenen Reichtum lediglich dem Freihandels-Prinzip verdanke, war eine felsenfeste. Die einfache Regel: laßt jede Nation ihre Bedürfnisse so billig kaufen wie sie kann, gleichviel woher und von wem, und ihre Produkte verkaufen so teuer sie kann, gleichviel wohin und an wen, schien mir ein so unfehlbares Mittel, durch einen friedlichen Wettkampf unter den Völkern der Erde jedes derselben zu der anstrengendensten Tätigkeit und zur Produktion gerade derjenigen Güter anzuspornen, auf deren Hervorbringung das einzelne Land durch seine geographische Lage, sein Klima, seine Grund- und Bodenverhältnisse besonders hingewiesen ist: – daß ich in jeder Abschaffung von Zöllen einen Kulturfortschritt im Allgemeinen und ganz besonders auch eine sichere Quelle zur Bereicherung jeder Nation erblickte. Zölle erschienen mir damals nicht nur an und für sich als schädliche Verkehrsschranken, sondern auch als ungerechtfertigte Bevorzugung einzelner Industrie- und Fabrikationszweige, als überflüssige Bevormundung der freien Entwicklung der nationalen Kräfte.
Ich hielt mit einem Worte, den radikalsten Freihandel für ein liberales Prinzip in des Wortes vollster Bedeutung.
Man möge sich mein Entsetzen vorstellen, als ich in dieser Periode von einem gebildeten Amerikaner, einem Rechtsgelehrten, mit dem ich im Bade flüchtig bekannt geworden war, ganz ernsthaft die Meinung aussprechen hörte, die Manchester-Freihandelstheorien wären der größte Schwindel, der jemals erfunden, um die Menschheit zu betrügen (the greatest humbug ever invented).
Wir waren auf das Thema gekommen, weil ich bei Besprechung des Sezessionskrieges die Äußerung hingeworfen hatte, wenn ich auch gar keine Sympathien für das Fortbestehen der Sklaverei hätte, müßte ich doch bedauern daß das Unterliegen der Südstaaten gleichzeitig den Sieg der protektionistischen Tendenzen über die Freihandelspolitik in den Vereinigten Staaten herbeigeführt zu haben scheine. Die schroffe Äußerung des Amerikaners schob ich auch, in dem überlegenen Bewußtsein eines gediegenen Urteils über nationalökonomische Fragen, lediglich auf die Erbitterung der amerikanischen Parteien, und es machte mir sehr wenig Eindruck, als jener hinzufügte, er wolle es Deutschland nicht wünschen, daß es jemals die Erfahrung mache, was die praktische Durchführung des radikalen Freihandelsprinzips zu bedeuten habe, und mir die Frage vorlegte, ob ich Careys Schriften gelesen. – Carey? – Ich hatte den Namen erwähnt gesehen als den eines geistvollen Vertreters des Schutzzollsystems, natürlich aber nichts von einem Manne gelesen, von dem ich ja doch unmöglich noch etwas lernen konnte.
Gleichwohl erinnerte ich mich sofort jenes Gespräches, als ich einige Zeit später Careys System der Sozial-Wissenschaft durch eine Buchhandlung zugesandt erhielt, und begann, etwas in dem ersten der drei dicken Bände zu blättern, ohne durch den Inhalt besonders angesprochen zu werden – wozu wahrscheinlich eine gewisse eingewurzelte Abneigung gegen wissenschaftliche Bücher in drei dicken Bänden ebenso sehr beitrug, als die Voreingenommenheit für meine eigenen Meinungen. Ich fand zwar, daß der Autor über die Adam Smithsche Ansiedlungstheorie ebenso wie über die Ricardosche Grundrententheorie manche originellen Dinge vorbrachte, die der Beachtung und des Nachdenkens wert erschienen, in den Getriebe parlamentarischer Kämpfe vermochte ich aber mich zu einem eingehenden Studium nicht zu entschließen und sandte das Buch nach flüchtiger Durchsicht fort.
Wie erstaunte ich, als mir kurze Zeit darauf von dem Senior der deutschen Fortschrittspartei, Herrn Ziegler, bei einer Unterhaltung über eine Zollfrage mit warmen Worten der Anerkennung für den Autor wiederum dieselbe Frage vorgelegt wurde: Haben Sie Carey gelesen? Ich glaubte diese Frage (mit nicht ganz gutem Gewissen) in Rücksicht meiner flüchtigen Bekanntschaft mit dem System der Sozialwissenschaft, deren ich eben gedacht, mit „ja“ beantworten zu dürfen, nahm mir nunmehr aber ernstlich vor, das Versäumte nachzuholen.
Inzwischen hatte ich allerdings schon gelernt, daß die raue Wirklichkeit in einer ganzen Reihe von Zollfragen die Durchführung meiner Ideale verweigert hatte. Freihändler im Herzen, Manchestermann aus Neigung und Überzeugung, hatte ich realen Fragen gegenüber mich wiederholt gezwungen gesehen, nach bester Überlegung gegen meine volkswirtschaftlichen Gesinnungsgenossen zu votieren. Aber man gewöhnt sich in politischen Leben so sehr daran, auf seine Ideale zu verzichten, um das Mögliche zu erreichen, daß mir an der Richtigkeit der herrschenden Manchester-Doktrin doch kaum ein ernsthafter Zweifel entstanden war, bis ein ausgesprochen schutzzöllnerischer Freund mir gelegentlich mit folgenden praktischen Einwurfe begegnete:
Wenn Ihre Freihandels-Theorien richtig wären, müßten alle protektionistischen Länder verarmen, alle Freihandelsländer reich werden. Eine genaue Prüfung der Handels-Politik und der Verhältnisse aller Länder auf der ganzen Welt beweist, daß gerade das Gegenteil sich zuträgt. Alle Freihandelsländer verarmen, und alle protektionistischen Länder blühen auf. Ergo muß in dem Exempel der Freihandelstheorien ein Rechenfehler stecken.
Dieser Einwurf führte mich zu Carey zurück, bei dem ich mich erinnerte, die Wirkungen des Freihandels-Systems auf eine Reihe von Staaten erörtert gesehen zu haben, führte mich zu einer sorgfältigen Prüfung der von ihm behaupteten Tatsachen und der Wirtschafts-Systeme der verschiedenen Länder, und diese wiederum zu denjenigen Folgerungen für unser deutsches Vaterland und dessen Wirtschaftspolitik, die ich hier niederzulegen mich unternehme.
Wenn ich vorausschicke, daß ich Zölle hier nicht in ihrer unmittelbaren Einwirkung auf das Budget, die Staatseinnahmen und Ausgaben, sondern lediglich in ihrer Wirkung auf die Produktion und Konsumtion eines Landes betrachte, so fasse ich das Ergebnis in Folgendem zusammen:
In dem Exempel des radikalen Freihandels-Prinzips stecken in der Tat Rechenfehler, und diese Rechenfehler sind folgende:
1. Das ganze System der Manchester-Schule beruht auf der Fiktion, daß alle Völker der Erde eine gemeinsame Familie mit ganz gemeinsamen Interessen bilden, also auf einer ganz ähnlichen Fiktion, wie die Theorie des allgemeinen ewigen Völkerfriedens, und es ist bezeichnend genug, daß wir in den Aposteln der Manchester-Schule (Cobden, Wright, Stuart Mill) zugleich die begeisterten Anhänger der internationalen Friedensliga erblicken.
Niemand wird diesen idealen Friedensbestrebungen eine Bedeutung für die Kulturgeschichte absprechen wollen, ja sie sind sogar gewiß nicht ohne praktische Bedeutung für unsere politische Entwicklung: – aber wer würde unter uns wohl ernstlich daran denken, unser Heer abzuschaffen, auf die Wehrkraft des Landes verzichten zu wollen in der gutgläubigen Hoffnung, durch eine solche Politik die anderen Staaten zur Nachfolge zu veranlassen! Praktische Vorschläge, unsere kriegerische Ausbildung aufzugeben, um Rußland, Frankreich, Österreich zu gleichen Maßnahmen zu veranlassen, würden selbst die idealsten Schwärmer unter unseren Staatsmännern und Abgeordneten nur belächeln. Die Gefahren eines solchen Vorgehens sind eben für jeden zu naheliegend und zu leicht erkennbar.
Anders liegt es mit jenen Freihandelstheorien, die auf derselben Fiktion beruhen und in ihrer Verwirklichung gleiche Gefahren für die Staaten heraufbeschwören. Bei dem wirtschaftlichen Verfalle und den sozialen Umwälzungen, welche demselben unmittelbar folgen, sind eben Ursache und Wirkung leichter zu verwechseln: die Forderung der Gegenseitigkeit, die bei dem Verlangen nach allgemeinem Völkerfrieden doch schließlich eine selbstverständliche ist, erscheint hier entbehrlicher, und wir sehen die Fanatiker des Freihandels täglich unter dem Beifall von Zuhörern, über deren Urteilskompetenz wir schweigen wollen, die geradezu lächerliche Doktrin (im Widerspruche mit den täglichen Erlebnissen) vortragen, daß die Verwirklichung des radikalen Freihandels in Deutschland auch Österreich, Rußland und Frankreich auf die gleichen handelpolitischen Bahnen treiben werde.
2. Der weitere reelle Rechenfehler des radikalen Freihandels besteht
a) teils in der Verkennung das schon von Adam Smith3 so deutlich hervorgehobenen Satzes, daß nicht der äußere Handel, sondern der innere Verkehr die Hauptquelle des Reichtums eines Landes ist, teils in der Verleugnung der überall bestätigten Tatsache, daß diejenige innige Assoziation der Menschen, welche die Vorbedingung für die Vervollkommnung ihrer Herrschaft über die Natur ist und welche allein das Emporblühen jenes inneren Verkehrs verbürgt, nur erreicht werden kann durch Entstehung zahlreicher kleiner Assoziationszentren – dagegen ertötet wird durch jene willkürliche Verschiebung des natürlichen Marktes und die Zentralisation des Verkehrs nach einzelnen großen Handelsplätzen;
b) auf der Verkennung der Notwendigkeit, daß die kolossale Kraft- und Kostenvergeudung der Ortsveränderung, die Transportkosten, die das radikale Freihandels-Prinzip hervorruft, doch irgendwo zur Geltung kommen, von irgendwem getragen werden müssen4;
c) auf der Verkennung der Bedeutung desjenigen Übergewichtes in der Textil- und Eisenindustrie, welche sich England auf eine künstliche und unnatürliche Weise durch die rücksichtslose Ausbeutung seines Kolonialbesitzes erworben hat, und der Unterschätzung der schweren Nachteile, welche für alle Länder, die sich dem Freihandels-Prinzipe nähern, daraus entstehen, daß England selbst eine durchaus protektionistische Politik für Produkte treibt, die andere Länder billiger und besser produzieren (siehe die Spiritusfrage in Kapitel 5);
d) in der unrichtigen Interpretation und Anwendung des Fundamentalsatzes: Kaufe billig und verkaufe teuer. Der scheinbare billige Kauf ist unter Umständen ein sehr teurer, der scheinbar vorteilhafte Verkauf ein sehr unvorteilhafter. Bei dem Verkaufe wird so leicht übersehen, daß der beste Käufer für meine Produkte immer der sein wird, dessen Produkte ich wiederum brauche – bei dem Kaufe, daß der vorteilhafteste Kauf regelmäßig der ist, durch den ich den Abgeber in den Stand setze, wiederum meine Produkte abnehmen zu können;
e) in der Unterschätzung des Einflusses, den die möglichste Vielseitigkeit der Produktion einer Nation auf ihre intellektuelle Ausbildung ausübt. Eine Nation, die durch natürliche Verhältnisse oder eine falsche Handelspolitik dahin gedrängt wird, sich ausschließlich z.B. mit Ackerbau und Erzeugung von Rohprodukten zu befassen, wird immer von vorn herein im Nachteile sein Nationen gegenüber, bei denen gleichzeitig die Industrie in ihren verschiedenen Zweigen blüht.
Es soll der Nachweis versucht werden:
Ehe ich auf die große Kontroverse über die Bedeutung der Handelsbilanz näher eingehe, möchte ich mir erlauben, zwei Irrtümer zu berichtigen, die auch in Kreisen, denen man ein besseres Urteil zuzutrauen geneigt ist, merkwürdig weit verbreitet sind.
Die erste dieser irrigen Auffassungen ist die, daß unsere gegenwärtige wirtschaftliche Krisis durch Mängel unseres Besteuerungssystems vorwiegend hervorgerufen sei. Nun hat ein Besteuerungssystem ja sehr entschiedene Einwirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes – aber die Ungerechtigkeiten und Härten, welche die Verteilung der aufzubringenden Steuern immerhin auch bei uns mit sich führen mag, sind in ihrem Einflusse auf die Produktivität des Landes doch an und für sich nur von untergeordneter Bedeutung gegen diejenigen Folgen, welche sich aus der Handelspolitik des Staates ergeben; und insofern die letztere aus seinem Zollsysteme erkenntlich wird, ist wiederum die eigentliche finanzielle Bedeutung der Zölle – d.h. ihre Einwirkung auf das Staats-Budget – von weit geringerer Bedeutung, als ihre wirtschaftliche, d.h. ihre Einwirkung auf Produktion und Konsumtion der Nation. Wenn also beispielshalber unsere Einkommenssteuerverteilung einzelne Klassen der Bevölkerung härter trifft als andere, so ist das an und für sich nicht wesentlich maßgebend für die Produktion und Konsumtion des ganzen Volkes, obgleich vom finanziellen Standpunkte aus die Einkommenssteuer eine für das Budget sehr wichtige Steuerquelle ist. Wenn andererseits die Eisenindustrie durch Zölle gegen die Konkurrenz des Auslandes geschützt wird, so kann das Bestehen oder der Fortfall dieser Zölle für die Eisenproduktion und Konsumtion, also für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, von entscheidender Wichtigkeit sein, während die Frage als reine Budgetfrage betrachtet, wegen der Geringfügigkeit der Einnahmen, um die es sich eventualiter handelt, von sehr geringem Interesse ist. Für jeden Produzenten und – da die Gesamtmasse der Nation ebenso wohl produziert wie konsumiert – für die ganze Nation ist die möglichste Einträglichkeit der Produktion eine Frage, die in ganz anderem Sinne eine Lebensfrage für den Einzelnen ist, wie die Frage einer etwas höheren oder geringeren Steuer, die auf ihn entfällt, und durchaus irrig daher die Meinung, daß durch billigere gerechtere Steuerverteilung, so wünschenswert diese an sich sein mag, der nationale Wohlstand in ähnlicher Weise gehoben oder geschädigt werden könnte, wie durch eine richtige oder verkehrte Handelspolitik.
Die zweite irrige Auffassung, ebenso weit in gebildeten Kreisen verbreitet, ist die, daß wir unsere wirtschaftliche Krisis der Einführung der Goldwährung zu verdanken hätten. Wenn ein Privatmann eine große Summe jährlich an einen anderen zu zahlen hat, so kann diese Last unter Umständen durch die Zahlungsmodalitäten, z.B. die Stipulation der Zahlung in einer bestimmten Münzsorte, erschwert und verteuert werden, aber von ungleich größerer Tragweite für die Interessen des Schuldners wird immer die Eventualität bleiben, ob er sich nicht überhaupt von der Zahlung zu befreien vermag. Genau ebenso liegt es mit der Goldwährung: das deutsche Reich hat 200 bis 300 Millionen Taler jährlich für seine Handelsunterbilanz an das Ausland zu zahlen und ist durch Goldwährung gezwungen, diesen Betrag in Gold zu leisten und dadurch wieder genötigt, zur Komplettierung seines Münzvorrates Gold im Auslande zu kaufen.
Diese Operation kann den Wert des Goldes verteuern, aber die Last der Zahlung an sich kaum erheblich erschweren, selbst wenn in der Normierung des Verhältnisses von Gold zu Silber ein Fehlgriff getan sein sollte – was ich meinerseits nicht zuzugeben vermag, oder wenn es, was vielleicht eher zugegeben werden kann, vorsichtiger gewesen wäre, es zunächst mit der Doppelwährung zu versuchen. Die wichtigere Frage bleibt immer, ob nicht die Möglichkeit vorhanden ist, die Zahlung überhaupt zu vermeiden. Die Sache liegt eben gerade umgekehrt: Nicht die Goldwährung rief die wirtschaftliche Krisis hervor, sondern die Dauer der letzteren macht die Einführung der Goldwährung illusorisch und führt uns in die Papierwährung.
Was nun die Frage der Bedeutung der Handelsbilanzen anbetrifft, so hat Adam Smith bekanntlich den Satz aufgestellt, daß Handelsunterbilanzen im Laufe der Zeit bei vollem Freihandel ihren natürlichen Ausgleich finden müßten5. Man möge dabei nicht vergessen:
Aber selbst dann widerspricht der Satz in seiner Allgemeinheit dem einfachen für den Privat- wie für den Staatsverkehr gleichmäßig geltenden Gesetze von den Wirkungen der Mehrausgaben (gegen die Einnahmen) auf wirtschaftliche Verhältnisse6. Privatleute, Fabrikanten, Landwirte können mit einer jährlichen Unterbilanz wirtschaften, ohne den Stand ihres Vermögens zu gefährden, wenn sie durch dauernde Ausdehnung ihres Geschäftsbetriebes, Meliorationen usw. stetig ihre Produktion und ihre Einnahmen zu vergrößern und somit ihre Vermögenssubstanz in dem Verhältnis der aufgewendeten Mittel zu verbessern wissen. Aber bedenklich wird die Unterbilanz sofort, sobald sie eben nicht von vermehrter Produktion, von vermehrten Einnahmen begleitet ist: – dann treten eben alle die Konsequenzen ein, die den Verfall, den Ruin des Vermögens anzeigen.
Genau ebenso ist es mit den Staaten. Wenn ein Staat an Waren erheblich mehr einführt als ausführt und dadurch gezwungen ist, auf seine baren Mittel zurückzugreifen, so kann das für ihn ein ebenso günstiges Zeichen sein, wie für den Privatmann die Kontrahierung einer Schuld, um eine ertragreiche Melioration vorzunehmen; – wenn aber im Verlaufe der Jahre sich regelmäßig dies wiederholt, wenn dabei die Gesamtproduktion des Landes statt zuzunehmen, sich vermindert, wenn die Hochöfen ausgeblasen werden, die Fabriken still stehen, die landwirtschaftlichen Erträge sinken, der Wert des Grund und Bodens fällt, dann bedeutet die Handelsunterbilanz für den Staat absolut dasselbe wie für den Privatmann, nämlich den wirtschaftlichen Verfall, d.h. das Verschwinden zuerst des baren Geldes und dann des Kredites.
„Keine Regierung“ – sagt David Hume7 in seinem Essay on Money – „ braucht eine ungünstige Handelsbilanz zu fürchten, die mit Sorgfalt ihr Volk und ihre Manufakturen bewahrt. Tut sie dies, so kann sie getrost, was Geld anbelangt, auf den Verlauf der menschlichen Angelegenheiten vertrauen ohne Furcht oder Eifersucht.“ Und dieser Satz ist zweifellos richtig, denn Gold strömt dort zu, wo die schnelle Zirkulation eines blühenden inneren Verkehrs seiner bedarf, und wandert von dort aus, wo die Zirkulation stockt, der Gewerbefleiß darniederliegt und man seiner nicht bedarf.
Aber an und für sich ist die genaue Feststellung einer Handelsbilanz, wie Stöpel treffend nachgewiesen hat8, eine mit besonderen Schwierigkeiten verknüpfte Aufgabe: die statistischen Mitteilungen sind dürftig, – die Summe des im Auslande angelegten Kapitals, dessen Zinsen in Rechnung zu stellen sind, schwer genau zu bestimmen, – und der Export entzieht sich für eine ganze Reihe von Objekten und Verkehrsstraßen fast gänzlich der Kontrolle. Immerhin wird die Unterbilanz Deutschlands nach den vorhandenen Daten sich schon im Jahre 1872 auf 200, im Jahre 1873 auf 300 Millionen Taler, im Jahre 1874 wahrscheinlich noch höher stellen.
Bei diesen Ziffern spielen die Bekleidungsgegenstände (rohe und verarbeitete Wolle und Baumwolle) eine Hauptrolle und beträgt die Mehreinfuhr von englischen Baumwollen-Ganz- und -Halbfabrikaten circa 30 Millionen; von englischen Wollen-Ganz- und -Halbfabrikaten circa 45 Millionen Taler. Wenn man neben diesem gewaltigen Importe das Feiern unserer Fabriken und die traurige Lage unserer gesamten Textil-Industrie in Betracht zieht, so wird das Verlangen der letzteren nach einer Revision unserer Tarife wahrlich als ein vollberechtigtes angesehen werden müssen. Eine ganz natürliche Konsequenz dieses Sinkens der deutschen Manufaktur- und Fabrikationstätigkeit ist das gleichartige Sinken der landwirtschaftlichen Produktion, die hinter dem Bedarf um etwa 90 Millionen Taler zurückbleibt, wozu der Unfug9 der Differential-Tarife ebenso mit beigetragen haben mag, wie der Massenimport von rohen und gegerbten Häuten und von Fettwaren aus Süd- und Nordamerika und Rußland, und die Erschwerung des Spiritus- und Fettvieh-Exportes nach England.
Wenn nun solchen Tatsachen gegenüber die Reichsregierung vom Tische des Bundesrates aus erklärt, daß Handelsunterbilanzen an sich nicht viel zu bedeuten hätten, daß England mit langjährigen Unterbilanzen gewirtschaftet habe, so will ich mir eine Kritik solcher Kundgebungen schenken und nur bezüglich Englands bemerken, daß dies Land an ausländischen zinstragenden Kapitalien vielleicht das Hundertfache besitzt, wie Deutschland, und bei der Ausdehnung seiner Industrie und seines Absatzmarktes mehr in der Lage ist, ungünstige Konjunkturen eine zeitlang mit ansehen zu können, als irgend ein Land der Welt – und daß es gleichwohl zweifelhaft bleibt, ob seine dauernden Handelsunterbilanzen nicht ebenfalls ein sehr bedenkliches Symptom für die dortigen Zustände sind. Was die nordamerikanischen Handelsbilanzen betrifft, so mag beiläufig darauf hingewiesen werden, daß bei Beurteilung derselben in Betracht zu ziehen ist, daß Nordamerika ein gewaltiges Quantum an Edelmetallen produziert, weit über den eigenen Bedarf hinaus; daß folglich die Warenimport – und Exportverhältnisse dort stets ungünstiger erscheinen, als sie es wirklich sind. Dort müssen eben Gold- und Silber-Exporte zum guten Teile dem eigentlichen Waren-Export zugezählt werden.
Welch eine Wirkung nun Zölle auf die Exportfähigkeit eines Landes und somit auf seine Handelsbilanz auszuüben vermögen, davon geben Nordamerika und Frankreich in dem stetig steigenden Export ihrer Fabrikate eine Belehrung, die allerdings denen verloren geht, die nicht sehen wollen. Wenige Jahre eines energischen Schutzzolls haben hingereicht, um die nordamerikanischen landwirtschaftlichen Maschinen und Eisenbahnwagen über die ganze Welt zu verbreiten, während es früher seinen ganzen Maschinenbedarf selbst aus England bezog. Wenige Jahre eines energischen Schutzzolls haben hingereicht, um in Frankreich die Exportfähigkeit und Produktionskraft des Landes zu der Höhe zu entwickeln, um welche wir es gegenwärtig mit Recht beneiden: – lauter Belege zu dem Werte der Lehre der Manchester-Schule, daß nur der radikale Freihandel ein Land exportfähig mache.
Für mein Teil messe ich der Einführung der Goldwährung das große Verdienst bei, uns zu gründlichen Untersuchungen über die Wirkungen und Ursachen der Handelsbilanzen veranlaßt zu haben. Wenn selbst Herr Kamphausen zugibt, daß nur günstige Handelsbilanzen uns vor dem fortwährenden Verschwinden unserer Kronen und Doppelkronen bewahren können, so wird uns die mit diesem Verschwinden verbundene Unbequemlichkeit für den Verkehr wahrscheinlich mehr als alles andere dazu hinleiten, die verderblichen Wege zu verlassen, die unsere Handelspolitik heute eingeschlagen hat, und Bahnen zu betreten, bei welchen das Verbleiben unserer Goldmünzen die sichere Gewähr im Lande gleichzeitig für die Erhaltung und Verbesserung unseres nationalen Wohlstandes bietet.
In derselben Reichstagssitzung, in welcher der Minister Kamphausen zugab, daß nur eine günstige Handelsbilanz das Gold im Lande zu halten vermöge, gab er gleichzeitig den scheinbar sehr einfachen Weg an, eine solche zu erzielen. Billige Arbeitslöhne, billige Kohlen, billiges Eisen sagte er – würden unsere Produktion mit Leichtigkeit wieder der des Auslandes gegenüber konkurrenzfähig machen und somit die Handelsbilanz zu unseren Gunsten wenden.
Ich will davon absehen, daß in dieser Antwort Dinge zusammengeworfen sind , die genau genommen nicht zusammengehören, denn Eisen ist z.B. ein Fabrikat und kein Rohprodukt wie die Kohle, und der Preis der letzteren hängt wiederum nicht ausschließlich von den Arbeitslöhnen ab, und nur bemerken, daß er völlig im Sinne der Manchester-Schule gesprochen hat10 oder, wie er vielleicht meint, im Sinne der großen Prinzipien des Freihandels, die er nie verlassen will.
Nun meine ich, wird man aber doch den ehrwürdigen Adam Smith, den Vater der Nationalökonomie als Wissenschaft einigermaßen auch als den Vater des Freihandels anerkennen müssen, und was die Arbeitslöhne betrifft, so sagt Adam Smith11:
„Reichliche Lohnung der Arbeit ist ebenso sehr notwendige Folge, als natürliches Anzeichen eines wachsenden nationalen Wohlstandes. – Umgekehrt zeigt kärglicher Unterhalt der besitzlosen Arbeiter natürlicherweise einen Stillstand, Notleiden derselben einen schnellen Rückschritt in der Entwicklung des nationalen Wohlstandes an.“
Die untrügliche Wahrheit dieser goldenen Worte wird niemand leugnen können, der die Landstriche mit hohen Arbeitslöhnen mit denen vergleicht, in welchen die letzteren sich auf einem niedrigen Niveau erhalten haben. In Baden, Württemberg, Sachsen, Westfalen, am Rhein sahen wir hohe Arbeitslöhne und gleichzeitig das Bild eines verbreiteten Wohlstandes, blühenden Gewerbefleißes, reicher Erträge der Landwirtschaft – während die industriearmen Teile der östlichen Provinzen Preußens uns bei niedrigen Arbeitslöhnen dasselbe Bild der Armut und des Verfalls darbieten, wie die Länder, welche, wie Irland, Indien, Mexiko, die niedrigsten Arbeitslöhne der Welt aufweisen.
Gleichwohl ist kein Satz des großen Meisters von seinen Epigonen mehr in sein Gegenteil verdreht worden, als gerade der oben zitierte. Einzelne sprachen es geradezu aus, daß mit dem wachsenden Gewinn des Unternehmers und Kapitalisten der Gewinnanteil des Arbeiters ein immer geringerer werden müsse12 – und sobald einmal durch Verkehrsstockungen die Industrien aufhören mit Gewinn zu produzieren, ist das allgemeine Geschrei der ganzen Manchester-Schule: Herabsetzen der Arbeitslöhne.
Die Parole enthält:
In der Tat ist das Rechenexempel doch ein wunderbares, daß man 4/5 der Nation in ihrem Erwerbseinkommen verkürzen und damit die Nation wohlhabend machen will.
Und es handelt sich wirklich um 4/5 der Nation, denn nach den sorgfältigen Untersuchungen, welche ich im Laufe des vergangenen Sommers über die Löhne unserer Eisen- und Kohlenindustrie angestellt habe, hat sich zur Evidenz herausgestellt, daß das Verhältnis dieser Löhne zu den landwirtschaftlichen Tagelöhnen der betreffenden Provinz bei der eingetretenen allgemeinen Lohnsteigerung nicht wesentlich alteriert worden ist, daß vielmehr die landwirtschaftlichen Löhne in demselben Maße an der Lohnsteigerung teilgenommen haben.
Da nun die Löhne der Eisen- und Kohlenwerke wegen der verlangten besonderen Qualifikationen des Arbeiters, der leichteren Unterbrechung der Arbeit durch Naturereignisse oder Verkehrsstockungen, der größeren körperlichen Gefahr für Leben und Gesundheit des Arbeiters, höhere sein müssen wie die landwirtschaftlichen, so heißt für diese Branche das Verlangen nach niedrigen Lohnsätzen gleichzeitig auch das Verlangen nach Reduktion der landwirtschaftlichen Löhne, oder mit anderen Worten das Verlangen nach Reduktion aller Arbeitslöhne überhaupt.
Nun ist von unseren wirtschaftlichen Parteien keine Gruppe vorhanden, welche seit Jahren heftiger gegen die hohen Löhne eifert, wie die sogenannte agrarische Partei: – die Partei der Landwirte, – während keine Partei an Blüte der Industrie und Höhe der Arbeiterlöhne von Rechts wegen ein höheres Interesse haben sollte: aus dem einfachen Grunde, weil eben der Arbeiter der Hauptkonsument für alle landwirtschaftlichen Produkte ist.
10 Millionen Zentner Wolle in Tuch, 10 Millionen Zentner Eisenerze im Inlande in Eisen verwandeln, heißt unter allen Umständen für den Landwirt das Bestehen eines sicheren Absatzmarktes für viele Millionen Zentner Getreide und Fleisch. Und umgekehrt: Einfuhr von Tuch und Eisen im Werte von Hunderten von Millionen Taler heißt einen inländischen Absatzmarkt für Fleisch und Getreide in annähernd gleicher Höhe entbehren.
So ist nichts natürlicher als die Erscheinung, daß unsere landwirtschaftlichen Erträge sich nur in den industriellen Provinzen heben, nur dort der Wert des Grund und Bodens steigt – während er in den industriearmen Provinzen zurückgeht. Eine selbstverständliche Folge des Satzes, der noch überall sich bewahrheitet hat, daß eine blühende Industrie, ein tätiger Gewerbefleiß jedes Mal auch eine rationell betriebene ertragreiche Landwirtschaft erzeugt – während keineswegs umgekehrt eine ertragreiche Landwirtschaft, wie sie durch Export zeitweilig entstehen kann, notwendig eine Industrie ins Leben ruft.
Die großen Revolutionen, zu welchen die deutschen Landwirtschaften durch die veränderten Handelskonjunkturen gezwungen worden sind, liegen zu sehr zu Tage, um nicht die Berechtigung eines Teiles der landwirtschaftlichen Klagen anzuerkennen:
Alle diese Dinge haben zusammengewirkt, um die Erträge der deutschen Landwirtschaft schwankend und unsicher zu machen und herabzudrücken, und doch datiert der wirkliche Verfall erst seit der stetigen Vermehrung des Tuch-, Baumwollwaren- und Eisen-Imports. –
Und wie verhalten sich diesen Zuständen gegenüber unsere Agrarier?
Während durch die Konkurrenz Amerikas und Rußlands und die Handelspolitik Englands ein auswärtiger Markt für unsere landwirtschaftlichen Produkte für den Osten Deutschland kaum noch existiert, bemühen sie sich nach Kräften, den inländischen Markt zu ruinieren durch Bekämpfung der vaterländischen Industrie.
Während sie über jede Steigerung der Arbeitslöhne, welche die Landwirtschaft direkt oder indirekt (durch etwaige Entziehung von Arbeitskräften) immer am allerwenigsten trifft, frohlocken sollten, da sie stets eine erhöhte Konsumptionsfähigkeit des inländischen Marktes bedeutet: sind gerade sie es, die sofort über Lohnsteigerungen die lautesten Klagen erheben.
Währen sie durchschnittlich das positive Verlangen stellen, die Differentialtarife für ausländisches Getreide zu verbieten, also eine Maßregel vorschlagen, die genau die Wirkung eines Schutzzolles für das inländische Getreide haben würde: erklären sie jeden Schutz der heimischen Industrie für ein schreiendes Unrecht.
Während pommersche und ostpreußische Landwirte es für ganz selbstverständlich erklären, daß der Staat zu ihren Eisenbahnen jährlich Millionen zuschießt, die also doch von den reicheren Provinzen getragen werden: gehen sie unbewußt darauf aus, den Wohlstand dieser Provinzen, der auf der Industrie beruht, zu ertöten, – statt den richtigen Weg zu gehen und die äußersten Versuche zu wagen, um sich selbst eine Industrie zu schaffen.
Während es zu Tage liegt, daß infolge unserer gegenwärtigen Handels-Politik die Landwirtschaft in weiten Distrikten heute nur noch ein kümmerliches Dasein fristet, der Wert der Grundstücke sinkt, die landwirtschaftlichen Erträge abnehmen, so daß das fruchtbare deutsche Reich heute schon für 90 Millionen Taler landwirtschaftliche Produkte mehr ein- als ausführt: sind es gerade die Agrarier, die die Regierung auf den unheilvollen Bahnen ihrer Handelspolitik fortzuschreiten täglich ermutigen.
Gleichwohl ist diese Erscheinung, die großen Grundeigentümer dem radikalen Freihandel zugetan zu sehen, keine vereinzelte. Die Sklavenhalter der Südstaaten sahen ihre Erträge jährlich sinken, weil der Preis der rohen Baumwolle stetig fiel; sie waren so hoch verschuldet, wie es nur die Grundbesitzer unserer östlichen Provinzen sein können, und der Verkaufswert ihrer Plantagen ging täglich zurück: aber der Scheinvorteil, englisches Eisen, englische Baumwollwaren, englische Tuche billig kaufen, und ihre Baumwolle wieder regelmäßig nach England absetzen zu können, benahm ihnen jedes Urteil über den eigenen unaufhaltsamen Verfall.
Und ein politischen Moment tritt hinzu. Mit dem Augenblicke, wo Industrie in einer Gegend heimisch wird, schwindet die Macht und das Ansehen der Großgrundbesitzer. Eine neue Klasse von großen Eigentümern tritt auf, die zahlreichere Arbeiter beschäftigen als sie und bald einen Einfluß gewinnen, der den ihrigen überwiegt. Wiederum liegen auf der Oberfläche die Nachteile und Unbequemlichkeiten, welche solch veränderte Gestaltung für den Grundbesitzer mit sich führt: die Arbeiter ziehen den Fabriken zu, die Gutsbesitzer sind gezwungen, die Löhne zu erhöhen und fühlen ihre althergebrachte Gewalt schwinden, – während die Vorteile: der gesteigerte Absatz landwirtschaftlicher Produkte, der steigende Wert des Grund und Bodens als selbstverständliche Dinge angesehen und gar nicht mehr mit dem Entstehen der Industrie in Verbindung gebracht werden, und der Anspruch, eine solche Industrie noch durch Zölle gegen die Konkurrenz des Auslandes schützen zu sollen, gar als eine schreiende Ungerechtigkeit erscheint.
Auch hat die Einführung von Industrien in ein bis dahin nur Ackerbau und Viehzucht treibendes Land eine weitere Folge, die der Grußgrundbesitz instinktiv bekämpft, nämlich die Verteilung des Grundeigentums, das Entstehen kleinen Besitzes. Umsonst quält man sich seit Jahren in Preußens industriearmen Provinzen, durch willkürliche Domänen-Parzellierungen, einen lebensfähigen kleinen Besitz zu schaffen, den das Aufblühen irgendeiner industriellen Tätigkeit in solchen Gegenden ganz von selbst hervorrufen würde. Man vergleiche nur die Verteilung des Grundeigentums in den industriearmen und in den industriellen Provinzen, und man wird folgendes Tableau überall bestätigt finden:
blühende Industrie |
keine Industrie |
---|---|
vielfach parcellierter Besitz |
Latifundien |
hohe Arbeitslöhne |
niedrige Arbeitslöhne |
steigende Dichtigkeit der Bevölkerung |
Auswanderung |
steigende Erträge der Landwirtschaft |
sinkende Erträge der Landwirtschaft |
steigender Wert des Grund und Bodens |
sinkender Wert des Grund und Bodens |
Die Manchester-Schule betrachtet, um von dieser agrarischen Abschweifung wieder zu der Arbeitslohnfrage zurückzukehren, die Arbeit lediglich unter dem Gesichtspunkte von Angebot und Nachfrage. Wir geben, sagt sie, den Arbeitern die volle Koalitionsfreiheit, mögen sie durch Streiks, wenn sie können, die Lohnsätze erhöhen, wenn die Nachfrage nach Arbeit groß ist, dafür werden die Kapitalisten, die Unternehmer die Löhne wieder herabsetzen, wenn das Angebot von Arbeit größer ist als die Nachfrage, und so kommt jeder Teil zu seinem Rechte. Dies ist der Grundsatz, zu dem sich auch der Minister Kamphausen implizit bekennt, wenn er heute die Herabsetzung der Löhne verlangt.
Nun soll nicht geleugnet werden, daß unter dem Schutze einer, wie mir scheint, völlig unzureichenden Gesetzgebung über die Folgen des Kontraktbruches, frivole Lohnerhöhungsstreiks einzelnen Kategorien von Arbeitern Lohnsätze verschafft haben, die zu den allgemeinen Lohnsätzen des Landes nicht im Verhältnisse stehen. Daß diese unverhältnismäßig hinaufgeschraubten Lohnsätze wieder auf ein normales zu den übrigen Löhnen im Verhältnis stehendes Maß zurückgeführt werden müssen, ist selbstverständlich, aber die deutschen Lohnsätze bleiben noch heute hinter den amerikanischen und englischen im Allgemeinen zurück und balancieren ungefähr mit den französischen, wobei jedoch in Betracht zu ziehen sein wird, daß das rauere deutsche Klima den Arbeiter zu größeren Ausgaben für Wohnung, Kleidung, Feuerung und Nahrung zwingt. Und diesem Zustande gegenüber will man Möglichkeit solcher Lohnherabsetzung behaupten, daß durch sie unsere Industrie konkurrenzfähig werden könnte!
Den Grundsätzen der Manchester-Schule folgend, die Freiheit der Streiks proklamieren, heißt in der Tat nichts weiter, als jenen Klassenkampf bei uns einbürgern, der ein so bedenkliches Symptom in der Entwicklung der englischen Zustände bildet. Ein Klassenkampf, der zunächst die Arbeiter gewissenlosen Agitatoren in die Hände treibt, um dann regelmäßig, wie die Vorgänge in England deutlich nachweisen, sie zu willenlosen Sklaven des Kapitals zu machen. Es gehört schon längere Zeit dazu, um die Unternehmer und Kapitalisten zu einem Trutz und Schätzbündnis gegen die Arbeiter zu vereinigen; ein solches ist aber die regelmäßige Folge wiederholter Streiks und führt jedes Mal zur Unterwerfung des Arbeiters, an dessen Lohn die Industrien sich dann für die erlittenen Einbußen schadlos halten, so daß er des Vorteils der regelmäßigen im Laufe der Jahre von selbst sich einfindenden Lohnsteigerungen völlig verlustig geht.
Den Arbeitern die volle Streik-Freiheit geben, heißt daher nur, ihnen einen Stein statt eines Brotes bieten; und daß während des tobenden Kampfes, während der Dauer des Streikes von dem berühmten Gesetze von Angebot und Nachfrage keine Rede mehr ist, wird man wohl willig zugeben. Dann herrschen eben unumschränkt die Leidenschaften: Haß und Neid verwirren auf beiden Seiten die Rechtsbegriffe und lassen alle wirtschaftlichen Rücksichten weit zurücktreten gegen die Befriedigung des Eigenwillens. Es ist Nachfrage nach Arbeit genug da, denn alle Fabriken stehen still – und Angebot von Arbeit genug, denn alle Arbeiter feiern – und dennoch wird eben nicht gearbeitet, sondern auf beiden Seiten ein Kapital vergeudet, dessen Höhe bei genauer Berechung unser Entsetzen erregt.
Je ruhiger und friedlicher die innere Entwicklung eines Landes sich gestaltet, um so größer ist die Gewißheit, daß der Arbeiter an den Wohltaten der Zivilisation in steigender Progression teilzunehmen vermag und daß die Normierung seiner Lohnsätze sich mit den gesteigerten Bedürfnissen des Lebens im Einklange erhält. Schnelle sprungweise Erhöhungen der Arbeitslöhne rufen die Reaktion der Herabdrückung derselben unter ein billiges Niveau mit Notwendigkeit hervor und gefährden noch lange nicht so sehr den Bestand der betreffenden Industrie, als sie die fortschreitende Besserung der sozialen Lage des Arbeiters verhindern und seine wirtschaftliche Existenz einem Hazardspiele unterwerfen, in welchem Gewinn und Verlust gleich demoralisierend auf den Betroffenen wirken14.
Im Gegensatz zu einem großen Teil der Kathedersozialisten würde ich daher scharfe Gesetze gegen frivole Lohnerhöhungsstreiks für eine wahre Wohltat für die arbeitenden Klassen ansehen; im Gegensatz zur Manchester-Schule hohe Löhne als das erste Zeichen für eine Heilung unserer wirtschaftlichen Krisis; mäßigen Schutz unserer Industrie, so daß sie hohe Löhne zu zahlen vermag, ohne den vaterländischen Markt völlig an das Ausland zu verlieren – für den ersten Schritt der Besserung. Möglichst hohe Arbeitslöhne, möglichst wenig Arbeit, ist das Feldgeschrei der Sozialdemokratie, möglichst niedrige Arbeitslöhne, möglichst viel Arbeit, das der Manchester-Schule – : möglichst hohe Arbeitslöhne und möglichst viel Arbeit, der einzige Weg, den nationalen Wohlstand zu sichern und die Politik, die diese Möglichkeit schafft, die einzig richtige.
Das Übergewicht in der Textil- und Eisenindustrie beruht auf folgenden Tatsachen:
England hat in seinem kolossalen Kolonialbesitze (und Irland wurde bis in die neueste Zeit hinein in diesem gleich behandelt) teils durch direkte Verbote, teils sowie in Ostindien durch direkte Besteuerungssysteme, jede Art von Manufaktur und Industrietätigkeit auszurotten und zu unterdrücken gewußt, und es verstanden, diese Länder von circa 200 Millionen Seelen zu zwingen, ihre Rohprodukte (z.B. Baumwolle, Indigo, etc.) zu den niedrigst denkbaren Preisen zu liefern und ihm die Fabrikate aus diesen Rohprodukten umgekehrt wieder zu möglichst guten Preisen abzukaufen15.
Es hat auf diese Art, gestützt auf seinen unerschöpflichen Reichtum an Kohlen und Erzen, folgendes erreicht:
Dieser Hypertrophie der industriellen Entwicklung Englands gegenüber ist eine Konkurrenz anderer Industrien unmöglich, und es sind leere Windbeuteleien, wenn unsere Fabrikanten selbst unter Umständen das große Wort führen und sich für konkurrenzfähig ausgeben. Einzelne Spezialitäten: z.B. die Kruppschen Kanonen und Fabrikate, zu denen besonderer Geschmack in Mustern und Zeichnungen gehört, werden auch beim radikalen Freihandel ihren Markt zu behaupten wissen. Im großen Massenbedarf der gewöhnlichen Fabrikate in Zeug und Eisen ist jede Industrie der englischen gegenüber geliefert, sobald ihr nicht durch – wenn auch nur mäßige – Schutzzölle wenigstens die Möglichkeit gegeben ist, sich auf dem inländischen Markt behaupten zu können. Wenn man nachforscht mit welchem Übermut und mit welcher Rücksichtslosigkeit England seine Kolonialübermacht jederzeit zur Geltung gebracht hat, wie englischen Fabrikanten-Assoziationen es sich wiederholt Hunderttausende von Pfunden kosten ließen, um durch stetiges Unterbieten der Preise eine kontinentale Konkurrenz zu ruinieren: so muß man zu der Einsicht gelangen, daß auf diesem Gebiete der Wettkampf jedes anderen Landes mit England der eines halbwüchsigen Knaben mit dem eines Athleten von Profession ist.
Denn die Möglichkeit billiger Produktion beruht für eine jede Industrie nicht, wie Minister Kamphausen wähnt, auf billigen Arbeitslöhnen, sondern hauptsächlich
In allen diesen Punkten aber ist England uns überlegen: Was Massenproduktion anbelangt, so walzt dort nach einer kürzlich in den Zeitungen erschienenen Notiz ein einziges Eisenwerk in der Woche soviel Schienen als große deutsche Werke innerhalb eines Jahres fertig stellen – und die Textilindustrie von Leeds und Manchester verhält sich zu unserer Industrie, wo sie aufs großartigste getrieben wird, wie der Chimborasso zum Berliner Kreuzberg.
Was die Sicherheit des Absatzes und die Größe des Marktes betrifft, so beherrscht England das gewaltige Gebiet seiner Kolonien ziemlich unumschränkt, der billige Wassertransport gibt ihm überall einen Vorzug, den kein anderes Land in der Welt in ähnlicher Weise besitzt. Das Rohmaterial endlich kauft England für seine Textilindustrie größtenteils aus erster Hand, während andere Nationen erst auf die Spesen des Zwischenhandels angewiesen sind.
Wenn unter diesen Umständen der mäßige Schutzzoll, den unsere Textilindustrie seither genoß, nicht hinreichend war, um dieselbe der englischen Ware gegenüber völlig konkurrenzfähig zu halten, so konnte dieselbe gleichwohl bis in die neueste Zeit hinein, in vielen Zweigen selbst auf dem großen Weltmarkte ihre Stellung behalten.
Bis vor 10 oder 15 Jahren wurde in Deutschland selbst die edelste Wolle produziert, welche deutsche Fabrikanten naturgemäß mit größerer Lokalkenntnis besser einzukaufen vermochten, als die englischen und französischen Tuchfabriken, welche gleichwohl dieser edlen Wolle nicht entbehren konnten.
Weiter hatte die deutsche Industrie durch die langjährigen Auswanderungen Deutscher nach den nordamerikanischen Freistaaten dorthin Handelsverbindungen anzuknüpfen vermocht, die ihr ein Absatzgebiet eröffneten, dessen Größe und Umfang ihr einen Platz neben der englischen Fabrikation sicherte.
Diese Zustände änderten sich in einer für uns verhängnisvollen Weise. Die Vervollkommnung der Maschinerien ermöglichte Tuchbereitung auch aus geringeren Kolonial-Wollen, selbst ohne Zuhilfenahme edler Elektoral-Wollen und diese Kolonial-Wollen nehmen ihrerseits durch die gesteigerte Quantität der Produktion ebenso sehr wie durch Verbesserung ihrer Qualität allmählich eine Stellung auf dem Markte ein, welche die englischen und französischen Fabrikanten nicht nur in den Stand setzen, der deutschen Wolle überhaupt entbehren zu können, sondern auch die deutschen Fabrikanten zwang, selbst jene Wollen zu kaufen, um nur überhaupt in billigen Tuchen eine Konkurrenz zu ermöglichen.
Hauptsächlich aber waren es doch die nordamerikanischen Schutzzölle, die unserer Textilindustrie den Todesstoß gaben. Nicht nur ging der große dortige Absatzmarkt verloren, sondern der ganze Strom englischer Fabrikate, der ebenfalls dorthin bisher seinen Weg genommen hatte, ergoß sich nunmehr mit voller Kraft auf die Märkte Deutschlands selbst und auf die überseeischen und auswärtigen Handelsplätze auf denen deutsche Ware bisher Absatz gefunden hatte.
Heute ist beiläufig unter dem Schutze des gegenwärtigen nordamerikanischen Zollsystems die dortige Textilindustrie zu einer so glücklichen Entwicklung gelangt, daß die Erfindungen im maschinellen Gebiete, welche dort gemacht und praktisch verwirklicht worden sind, in manchen Punkten die englische Industrie schon überflügelt haben, während die ältere und ihrer Zeit vollkommenere deutsche Industrie jährlich mehr erlahmt und hinter der englischen zurückbleibt: – ein sprechendes Beispiel für den belebenden Einfluß, den die Existenz eines sicheren Absatzmarktes auf eine Industrie auszuüben vermag.
Zu dem Verluste des nordamerikanischen Marktes trat für Deutschland gleichzeitig noch die Abnahme des Exportes nach Rußland, wo die einheimische Industrie in überraschend schneller Weise Bedeutung und Ausdehnung gewann und das allmähliche Zurückdrängen der deutschen Fabrikate in allen den europäischen Ländern, in welchen wie Skandinavien, Italien, Österreich, Ungarn, teils die heimische Industrie, teils der englische Import, ihr den Rang abzulaufen vermochte.
Endlich wurde durch die Annexion Elsaß-Lothringens, die sehr beträchtliche Produktion dieses Landes, die bis dahin ihr Hauptabsatzgebiet auf den französischen Märkten gefunden hatte, von diesen durch die Schutzzölle verdrängt und den deutschen Märkten zugeführt.
Wenn durch alle diese Ereignisse die deutsche Textilindustrie hin und wieder zu dem traurigen Auskunftsmittel gedrängt wurde, unsolide, unreelle Fabrikate zu liefern, um nur überhaupt noch fortarbeiten zu können, so ist dies stets wiederkehrende und ganz natürliche Übergangsstadium jetzt längst zurückgelegt und dasjenige Darniederliegen unserer Textilindustrie eingetreten, das durch die Ziffern unserer Handelsbilanz seine bedauerliche Illustration erhält.
Wenden wie uns nunmehr zur Eisenindustrie, so sahen wir diese in Deutschland in einem blühenden Aufschwunge begriffen. Wenn bei mäßigen Schutzzöllen belgische und englische Fabrikate noch immer ihren Weg auf den deutschen Markt fanden, so war dies sicher das beste Zeichen, daß jene Zölle keine Prohibitionszölle waren, sondern solche, die der Entwicklung der deutschen Eisenindustrie entsprachen.
Gleichwohl wurde auf das Drängen der deutschen Freihandelspartei hin eine beträchtliche Herabsetzung der Zölle schon im Zoll-Parlamente beschlossen – mit der ausdrücklichen Befürwortung seitens der Regierung, daß die Widerstrebenden wohl täten, sie hinzunehmen, damit die Eisenindustrie einmal wüßte, woran sie wäre, und Ruhe hätte.
Die Ruhe bestand darin, daß drei Jahre darauf ohne jeden zwingenden Grund und ohne jede Vorbereitung die Regierung selbst die volle Aufhebung der Eisenzölle beantragte. Dieser Antrag wurde durch den Reichstag bekanntlich dahin modifiziert, daß zunächst eine Herabsetzung auf die Hälfte und dann vom Jahre 1876 ab die völlige Aufhebung des Eisenzolls beschlossen würde. Ich habe persönlich damals mich nur auf den dringenden Wunsch meiner handelspolitischen Freunde entschlossen, diesem Kompromisse zuzustimmen, und bedauere heute lebhaft, es getan zu haben, denn wenn damals meine Prophezeiung, daß die sofortige Aufhebung der Eisenzölle uns die Wiedereinführung derselben in drei Jahren sichern würde, mit ungläubigem Lächeln begleitet wurde, so werden heute vielleicht meine Freunde selbst einsehen, daß jener Pessimismus nicht so ganz unberechtigt war: – erst die praktischen Erfahrungen können uns von dem Banne solcher Doktrinen befreien.
Da wir jährlich noch für viele Millionen Taler Eisen mehr einführen als ausführen, wird die Fabel von der Überproduktion hier ebenso wenig vorgebracht werden können, wie bei der Textilindustrie. Gleichwohl befindet sich die Eisenindustrie heute in folgender Lage:
Die Erfahrung wird demnächst lehren, wieweit sich der kürzlich noch von Herrn Abgeordneten Dr. Hammacher aufgestellte Satz, daß nur der volle Freihandel der Eisenindustrie Exportfähigkeit zu sichern vermöge, bewahrheiten wird. Die Beobachtungen, welche in Frankreich und Nordamerika in dieser Richtung gemacht sind, sprechen allerdings kaum für die Richtigkeit solcher Prophezeiungen. – Nordamerika war ganz abhängig vom englischen Eisenimport und wenige Jahre der Herrschaft des protektionistischen Systems haben hingereicht, um seine Eisenindustrie zu hoher Bedeutung zu entwickeln. Während in den Freihandels-Perioden der Eisenbedarf jedes Mal nachließ, die Hochöfen ausgeblasen wurden und die Hüttenwerke feierten, stieg mit den Schutzzöllen der Eisenbedarf mächtig, und während in jenen Perioden von einem Export keine Rede war, sehen wir heute amerikanische Eisenwaren durch die ganze Welt gehen. – Frankreich müßte gleichfalls, falls der Satz richtig wäre, daß Schutzzölle den Export vernichten, heute bei seinen hohen Zollsätzen weniger exportieren als früher – und genau das Gegenteil tritt ein: seit den Schutzzöllen ist die Eisenproduktion und Konsumtion des Landes erheblich gestiegen und der Export hat eine früher nicht gekannt Höhe erreicht – : nach meiner Auffassung nur ein weiterer Beleg des von mir verteidigten Satzes, daß nur die Industrie eine nachhaltige Exportfähigkeit erlangt, welche einen sicheren Markt im Inlande besitzt.
Wie groß die Flut ausländischer Fabrikate sein wird, mit denen der deutsche Markt überschwemmt werden mag, wenn die letzten Zollschranken gefallen und die englischen Arbeiterstreiks, wie vorauszusehen, mit der völligen Unterwerfung der Arbeiter beendigt sein werden: – läßt sich heute schwer berechnen: – nur das ist gewiß, daß die Werke der westlichen Provinzen schwerer von dem ersten Anprall betroffen werden müssen, als diejenigen Werke, welche wie die sächsischen und schlesischen, ein etwas entlegeneres Absatzgebiet innehaben. Und ob der kühne Ausspruch schulmeisterlicher Beamtenweisheit: wenn die deutsche Eisenindustrie nicht lebensfähig sei, möge sie untergehen – wenn die Dinge wirklich soweit gediehen sind – noch auf ebensoviele Bewunderer zählen kann, als heute: das wollen wir dahingestellt sein lassen. Solche Katastrophen können ja möglicherweise zu vorübergehenden sehr billigen Eisenpreisen führen, aber augenscheinlich auch nach dem Wegfall der vaterländischen Konkurrenz zu so hohen Eisenpreisen, wie wir sie noch nicht erlebt, sobald auf dem Weltmarkt einmal eine Hausse-Konjunktur für Eisen eintritt.
Wie aber eine praktische kaufmännische Nation wie die englische in ähnlichen Fragen verfährt, davon bietet die Behandlung der Spirituszölle in England ein Beispiel, das doch einige Beachtung verdienen sollte. Bekanntlich zahlt England eine Exportprämie für den im Inlande fabrizierten Spiritus – aber diese ist es nicht allein, die dem fremden Sprit, insbesondere dem deutschen, das Eindringen nach England verwehrt, sondern eine sehr einfache Maßregel tritt hinzu: nämlich das Verbot der Denaturation des fremden Spiritus. Nur englischer Spiritus kann denaturiert werden und erhält alsdann die gezahlte Steuer zurückvergütet. Da nun ziemlich die Hälfte des Spiritus zu Fabrikationszwecken verwandt, also denaturiert wird, so zahlt der englische Spiritus nur die Hälfte der Steuer, ungefähr, die der auswärtige an Zoll zu erlegen hat.
„Wie können Sie als Freihandelsland so etwas dulden? – Warum schaffen Sie nicht in London oder irgend einer Hafenstadt ein Depot, wo unter Aufsicht Ihrer Steuerbehörden auch der fremde Sprit denaturiert werden kann?“
Wie oft ist diese Frage oder eine ähnliche schon England vorgelegt? Und die fast regelmäßige mit seltenen Ausnahmen gleich bleibende Antwort war stets: Wir produzieren in England den Spiritus so teuer, daß wir mit anderen Ländern ohne solches Verfahren nicht konkurrieren könnten und der Spiritus ist ein so großer und wichtiger Fabrikationszweig, daß wir ihn nicht zugrunde richten können.
Der badische Abgeordnete Lamey sprach es einst in einer Beratung über Elsaß-Lothringens Annexion unumwunden aus: Keine Nation, die eine politische Bedeutung erringen wolle, könne eines gewissen gesunden Egoismus entbehren. In dieser Bemerkung steckt augenscheinlich viel Wahrheit: – andererseits aber wird man zugeben müssen, daß es den ewigen Gesetzen, welche die soziale Entwicklung der Völker bestimmen, nicht entsprechen würde, wenn ein so rücksichtsloser Egoismus, wie die englische Handelspolitik ihn von jeher gezeigt, nicht für die englischen Zustände selbst verderbliche Wirkungen haben sollte. Wenn eine Nation ungestraft eine Mißregierung seiner Kolonien durch Generationen fortsetzen könnte, wie England sie in Ostindien geführt, wo ein schlimmerer Druck auf den niedrigen Volksklassen lastet als selbst auf den unglücklichen Rajahs der Türkei, die jetzt in der Herzegowina den verzweifelten Versuch ihrer Befreiung machen; – wenn eine Nation, nur um die sinkenden Erträge des indischen Reiches zu heben, ungestraft einen so abscheulichen Krieg mit China beginnen dürfte, wie seiner Zeit England den Krieg mit China, um dort die Opiumeinfuhr zu erzwingen – ; wenn eine Nation ungestraft mit heuchlerischen Phrasen den Freihandel allen Nationen predigen und selbst durchaus protektionistische Politik, wo ihr eigenes Interesse es verlangt, treiben dürfe, ohne selbst durch solche Politik Schaden zu leiden: so würde man in der Tat an der Gerechtigkeit der Weltordnung irre werden müssen.
Aber wer mit der sozialen Entwicklung Englands sich ernstlich beschäftigt, wird auch die Rückwirkungen seiner ungesunden Politik nicht verkennen können: – täglich sehen wir in England die Kluft zwischen dem großen Kapitalbesitze und dem besitzlosen Arbeiterstande sich vergrößern. Wir sehen das fortwährende Wüten jenes Klassenkampfes, das in immer höheren Maße zur Sklaverei des Arbeiters führt, wir sehen das vollständige Verschwinden des Mittelstandes in Grundbesitz und Handwerk; – wir sehen, wie viele Hunderte von Morgen fruchtbaren Landes jährlich zu Jagdgründen und Parks umgewandelt werden, so daß die Zahl der englischen Grundeigentümer, die unter Adam Smith noch zweihunderttausend war, jetzt nur noch dreißigtausend beträgt; – wir sehen die Entvölkerung des platten Lande und das ängstliche Anwachsen einer zuchtlosen Volksmenge in den großen Städten; – wir sehen an der nervösen Aufregung, mit der man in England das Fortschreiten der russischen Kultur in Mittelasien verfolgt, wie sehr das instinktive Gefühl vorherrscht, daß ein Windhauch die englische Macht in Ostindien zu zertrümmern und damit England selbst in eine wirtschaftliche Krisis hineinzuziehen vermag, deren Schrecken man dunkel vorempfindet.
Je mehr die deutschen Sympathien sich einem Lande zuwenden, dessen Bevölkerung uns nahe stammverwandt ist, das in Entwicklung bürgerlicher und religiöser Freiheit ein leuchtendes Beispiel für alle Nationen der Erde gegeben hat und dessen Teilnahme, wie wir wissen, voll und aufrichtig den mächtigen nationalen Aufschwung Deutschlands begleitet; um so höher können wir den Dienst veranschlagen, den wir England selbst leisten, wenn wir uns davor bewahren, das Opfer der Übertreibung des Industrialismus und des Handelsgeistes zu werden, an welchem England selbst so schwer krankt, und durch eine richtige Handelspolitik dahin gelangen, für unsere eigenen Bedürfnisse, soweit wir können , selbst zu sorgen.
Wenn ich es noch versuche, die Wirkungen des radikalen Freihandels auf verschiedene Länder zu schildern, so folge ich hier zumeist in kurzen Auszügen der trefflichen Careyschen Darstellung, deren Studium ich nicht angelegentlich genug allen denen empfehlen kann, welche sich nicht damit begnügen, dem breiten Wege der oberflächlichen allgemeinen Meinung zu folgen, sondern ernsthaft entschlossen sind, Fragen erschöpfend erörtert zu sehen, welche nach meiner Meinung Lebensfragen für das deutsche Reich sind.
Von allen Ländern in Europa ist die Türkei17 zweifellos das am meisten mit natürlichen Rohstoffen gesegnete. Wolle, Seide, Korn, Öl, Tabak, können hier in beinahe unendlicher Menge produziert werden. Thessalien und Mazedonien besitzen Ländereien, die Baumwolle genug erzeugen können, um ganz Europa zu bekleiden, Steinkohlen, Eisenerze, Kupfer sind in unerschöpflichen Massen und von erster Qualität vorhanden. Und in der Tat war die Türkei vor Zeiten nicht nur ein mächtiges, sondern auch ein reiches Land. Tausende von Webstühlen arbeiteten für ganz Europa, die fruchtbaren Niederungen, die jetzt unbebaut und verödet daliegen, lieferten die reichsten Ernten und Geld war in Hülle und Fülle vorhanden.
Mit mathematischer Genauigkeit läßt sich die Ursache des Verfalls dieses Reichtums feststellen: er datiert von den Verträgen, durch welche die Türkei sich England und Frankreich gegenüber verpflichtete, nie einen höheren Zoll als 3 Prozent auf die Waren dieser Länder zu legen und die Schiffe derselben von den Hafenabgaben zu befreien. Das war allerdings der Freihandel im vollsten Umfange, und wenn erst hundert Jahre später mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts, nach der Vervollkommnung der abendländischen Maschinerien, der Massenimport englischer Textil- und Eisenwaren begann, so war es ja ganz natürlich, daß die große Masse der türkischen Bevölkerung sich anfänglich ordentlich zufrieden mit einem Systeme zeigte, das ihnen die Fabrikate in Wollen- und Baumwollen-Zeugen und Eisen billiger lieferte, als sie dieselben bei sich selbst bis dahin erhalten hatten, und ihnen dagegen einen Teil ihrer Rohprodukte wieder abnahm.
Der weitere Verlauf war:
Die Türkei ist heute das ärmste, machtloseste Land Europas: – aber noch der vorletzte Großwesir ist von den großen Prinzipien des Freihandel so sehr überzeugt wie Herr Kamphausen und macht die größten Entschuldigungen, daß er die früher schon auf 8 Prozent erhöhten Zölle auf 20 Prozent erhöhen müsse, – aus dringender finanzieller Not. Er mag sich beruhigen: die Länder, deren Kapitalisten den letzten Rest des türkischen Wohlstandes durch wucherische Anleihen ruiniert haben, (unter ihnen wieder England an erster Stelle) besitzen jetzt nur das eine Interesse, daß die Zinsen jener Anleihen gezahlt werden. Ob die Türkei dazu von den großen Prinzipien des Freihandels abgeht oder nicht, ist ihnen, nachdem das Land seine Kaufkraft gänzlich verloren hat, völlig gleichgültig.
Ganz ähnlich sind die Erfahrungen Portugals, das bekanntlich auch zu Zeiten ein blühendes mächtiges Reich und nach den großen Entdeckungen der portugiesischen Seefahrer einer der bedeutendsten Handelsstaaten Europas war. Das Land war wohlhabend, so lange auf die Entwicklung des inneren Verkehrs und der Industrie entscheidendes Gewicht gelegt wurde, so lange die berühmte Wolle von Estremadura im Inlande verarbeitet wurde und eine Reihe von Fabriken und Manufakturen entstanden war.
Sobald im Jahre 1703 gegen einige Begünstigungen der Einfuhr der portugiesischen Weine in England der Markt des Landes für die englische Textil und Eisenindustrie frei gemacht war, begann die Verarmung, begann der Untergang aller Verkehrsstraßen, da das Land bald nicht fähig war, sie zu unterhalten, begann die Entvölkerung und der jähe Rückschritt in der Zivilisation der Nation.
Daß die Zustände in Irland18 sich, seit das Land wirklich den Freihandel genießt, nicht gebessert, sondern verschlechtert haben, ist notorisch. Nach der Aufhebung der lange bestandenen Verbote zur Errichtung von Fabriken und Manufakturen, durch die England das Land zu Grunde gerichtet hatte, ließ die übermächtige englische Fabrikation die Entwicklung einer Industrie, wie Irland sie haben könnte, einfach nicht aufkommen. Eins der fruchtbarsten Länder Europas, hat Irland eine dichte Bevölkerung und die billigsten Arbeitslöhne in Europa, aber die krankhaften Erscheinungen , die der englische Freihandel überall ins Leben ruft, die Latifundien, die Auswanderung, das Elend der niederen Volksklassen, die allgemeine Armut, die Erschöpfung des Grund und Bodens und in Folge davon seine Entwertung – sie zeigen nirgends sich deutlicher als hier.
Deutschland selbst hat ein Land des radikalen Freihandels bis in die neueste Zeit hinein aufzuweisen gehabt: das kleine Mecklenburg, und die ewig wiederkehrenden Folgen des Systems, der Mangel an jeder Industrie, die Latifundien, die Unfreiheit, die Auswanderung, die allmähliche Entwertung des Grund und Bodens sind hier so gut zu beobachten wie überall, obgleich Mecklenburg durch seine glückliche Lage in der Nähe der großen Nord- und Ostseehäfen so lange wenig von den Nachteilen einer dauernden Ausfuhr von Rohprodukten und einer dauernden Einfuhr von Fabrikaten gewahr wurde, als England noch auf deutsches Getreide angewiesen war.
Nirgends haben jedoch die Wirkungen des radikalen Freihandels jederzeit sich fühlbarer gemacht und bieten für das Erkennen der ewigen Gesetze des menschlichen Verkehrs und der sozialen Entwicklung ein reicheres Feld der Beobachtung als in den Vereinigten Staaten Nordamerikas19, denn hier haben die verschiedenen Systeme, das protektionistische und das Freihandelssystem, abwechselnd die Herrschaft gehabt, bis nach dem Sezessionskriege ein scharfes Schutzzollsystem (fast ein Prohibitiv-System für einzelne Waren) die Oberhand erhielt und anscheinend die protektionistischen Tendenzen ein dauerndes Übergewicht gewonnen haben.
Von diesem Wechsel der Dinge, deren letztes Stadium die Herausgabe des Careyschen Systems der Sozialwissenschaft (1865) erst gefolgt ist, gibt der gedachte Autor folgende Schilderung, deren Treue und Richtigkeit durch die letzte eingetretene Wendung ihre volle Bestätigung erhält:
Die zahlreichen Fabriken und Manufakturen, welche 1812 bei Eröffnung des Krieges gegen England entstanden waren, gingen mit dem Frieden und dem Wiederbeginn des englischen Imports unter. Die Folgen des letzteren: Sinken der Arbeitslöhne und Entwertung des Grund und Bodens, führten zuerst 1924 ein halb-, dann 1828 ein völlig protektionistisches Zollsystem herbei. Sofort entwickelte der innere Verkehr sich zu hoher Blüte, die Arbeitslöhne wurden reichlicher, der Wert des Grund und Bodens stieg, die Geldkalamität hörte auf. Dann gewannen wieder die Freihändler der Südstaaten, die Sklavenhalter die Oberhand und setzten 1833 einen Kompromiß durch, in Folge dessen die Schutzzölle allmählich abgeschafft werden, und 1842 ganz verschwinden sollten, – aber lange vor diesem Termine waren die alten Notstände, schwere Handelsunterbilanzen, Sinken und Stocken des inneren Verkehrs, Fallen der Arbeitslöhne, Geldmangel, Entwertung des Grund und Bodens, so vehement wieder eingetreten, daß ein Umschwung der Politik und eine Rückkehr zum Schutzzollsystem erfolgte, das dann wiederum 1846 verlassen wurde.
Seit Beendigung des Sezessionskrieges hat nun, wie es scheint, dauernd das protektionistische System die Oberhand gewonnen, und wenn Carey von den früheren Perioden sagt, daß jedes Mal mit dem Freihandel dieselben trostlosen Folgen eintraten, während sofort bei der Rückkehr zum protektionistischen Systeme das Land wie mit einem Zauberschlage sich erholte, so würde er heute mit Stolz darauf hinweisen können, daß die Vereinigten Staaten heute nach der mehrjährigen Dauer des jetzigen protektionistischen Systems nicht nur Rohprodukte, sondern Fabrikate in gewaltigen Massen exportieren – ein Beleg zu dem Werte des von der Manchester-Schule gepredigten Satzes, daß der Schutzzoll die Exportfähigkeit eines Landes vernichte, –
Ein anderes großes Reich, daß mit glücklichstem Erfolge das protektionistische System bei sich entwickelt hat, ist das Russische. Bei allen bekannten Gebrechen der russischen Verwaltung, bei aller Härte in der Unterdrückung der wirtschaftlichen Entwicklung seiner polnischen Provinzen und bei den wunderbaren, noch halb barbarischen, chaotischen Zuständen, in denen sich die bäuerlichen Grund- und Bodenbesitzverhältnisse befinden21, nachdem die Leibeigenschaft aufgehoben: zeigt Rußland so überraschende Fortschritte in der Entwicklung seines inneren Verkehrs, seiner Industrie, seiner Manufakturtätigkeit, daß dieselben uns mit Bewunderung erfüllen müssen. Während Eisenbahnen und Wasserstraßen das ganze Reich durchschneiden, der Export russischer Produkte in gewaltigen Progressionen wächst, nimmt der Import fremder Eisen- und Textilwaren eher ab als zu, und die Zeit scheint nicht fern, wo es dieses Importes gänzlich wird entbehren können. – Steigende Arbeitslöhne, steigender Wert des Grund und Bodens, Fallen des Zinsfußes, Steigen des Kredites, Zuströmen des Bargeldes: kurz, alle Symptome einer gedeihlichen Entwicklung des nationalen Wohlstandes kommen hier so lebendig und deutlich zur Geltung, daß in der Tat nur das eine wunderbar ist, daß dieser wirtschaftliche Aufschwung unseres nächsten und mächtigsten Nachbarn in Deutschland einer weit geringeren Aufmerksamkeit gewürdigt wird als man es erwarten und voraussetzen sollte.
Aber die glänzendste Richtigkeit der Careyschen Lehre bietet doch die neuere wirtschaftliche Entwicklung Frankreichs 22 dar.
Seit einer der größten Staatsmänner, die jemals berufen waren, das wirtschaftliche Leben einer Nation zu leiten, der Minister Colbert, in seinem bekannten Berichte an Ludwig XIV. die Grundsätze seiner Handelspolitik dahin präzisierte, daß er die Ausfuhrzölle auf alle heimischen Produkte herabsetzen, die Einfuhrzölle auf Rohprodukte vermindern, fremde Manufakturen aber mittelst einer Erhöhung der Zölle möglichst ausschließen wolle, hat Frankreich mit kurzen vorübergehenden Abschwächungen konsequent des protektionistische System festgehalten.
Colbert hat, von seiner Zeit Ideen beherrscht, sicher manche Mißgriffe im Sinne des starren Merkantilismus getan (z.B. die Ausfuhrverbote für Getreide) – aber er hat die Grundlage des Zustandes geschaffen, welche Frankreich heute noch zum reichsten Lande der Welt macht, indem er zahllose Manufakturen und Fabriken über das ganze Land ins Leben rief und dadurch den Produzenten in unmittelbare Berührung mit dem Konsumenten brachte, eine Menge kleiner Assoziationszentren schuf und so der politischen Zentralisation gegenüber das Gegengewicht einer wirtschaftlichen Dezentralisation ins Leben rief, auf der noch heute der allgemeine Wohlstand Frankreichs beruht.
Dieser wirtschaftlichen Dezentralisation hat Frankreich es zu verdanken, daß weit später, nach dem Wegfall der gesetzlichen Schranken, die Zerteilung des Grundeigentums wirklich ins Leben trat und dadurch die blühende reiche Landwirtschaft hervorrief, die heute auch an landwirtschaftlichen Produkten mehr liefert, als das Land selbst bedarf.
Dieser wirtschaftlichen Dezentralisation ist es zu danken, daß jener hohe Grad kunstsinnigen Gewerbefleißes sich über ganz Frankreich verbreitete, der noch heute den französischen Fabrikanten einen so großen Vorsprung auf dem Weltmarkt sichert.
Dieser wirtschaftlichen Dezentralisation und ihrem dauernden Schutze ist endlich jene wunderbare Elastizität der französischen Finanzen zuzuschreiben, welche das französische Volk in den Stand setzt, seine politischen Revolutionen, seine schweren Niederlagen in unglücklichen Kriegen mit so staunenswerter Leichtigkeit und Schnelligkeit zu überwinden.
Die Überredungsgabe des Herrn Cobden hat unter dem letzten Kaiser einmal eine Hinneigung zu Freihandelsprinzipien zu erwirken vermocht, eine Hinneigung, die sich als sehr entschiedener wirtschaftlicher Fehlgriff erwies und der Regierung ihrer Zeit wahrscheinlich die Sympathien eines guten Teils der Nation mehr entfremdet hat, als man gemeinhin annimmt. Aber es verdient wohl beachtet zu werden, daß diesem Verlassen der hergebrachten französischen Handelspolitik politische Motive mit zugrunde lagen, nämlich der Wunsch nach der englischen Allianz einerseits, und die Absicht, die großenteils orleanistisch gesinnten Großindustriellen zu schädigen andererseits; und ebenso soll man nicht vergessen, daß gleichzeitig jenes vorzügliche System der Vicinalstraßen über ganz Frankreich verbreitet wurde, das sich für den inneren Verkehr des Landes von so unschätzbarem Werte erwiesen hat.
Gleichwohl traten zu dieser Zeit Symptome ein, wie wir sie heute in so bedenklicher Weise, in weit verstärktem Maße in Deutschland wahrnehmen. Die französische Textil- und Eisen-Industrie konnte den englischen Import so wenig ertragen als die deutsche. In den Arbeitslöhnen trat ein Stillstand, in der Fabrikationstätigkeit trat eine Verminderung ein, der Geldmarkt wurde schwierig. Erst der Wiederherstellung und wesentlichen Verschärfung des protektionistischen Systems, das jetzt nahezu ein prohibitives geworden ist, blieb es vorbehalten, die Exportfähigkeit und Produktionskraft Frankreichs wieder in dem hohen Grade zu steigern, daß heute alle entgegengesetzten Erscheinungen zutage treten. Die Arbeitslöhne steigen, die Handelsbilanz ist stetig zu Gunsten Frankreichs, das Bargeld strömt zu, von dem lebendigen inneren Verkehre gerufen, die landwirtschaftlichen Erträge und der Wert des Grund und Bodens steigen, der Zinssatz sinkt, die Unternehmungslust wächst – und das alles, nachdem Frankreich soeben 10 Milliarden gezahlt und zwei Provinzen verloren hat!
Nach den gewaltigen napoleonischen Kriegen im Beginne des Jahrhunderts wurde es als eine auffallende Erscheinung betrachtet, daß der langersehnte Frieden die wirtschaftlichen Kalamitäten des Landes nicht nur nicht zu heilen vermochte, sondern daß im Gegenteil die Manufaktur- und Fabriktätigkeit, welche unter dem Schutze der Kontinentalsperre sich zu entwickeln vermocht hatte, bei dem Wiederbeginn des englischen Importes völlig abzusterben drohte. Es ist zweifellos, daß diese Beobachtungen den ersten Anlaß zu der Herstellung von Zollschranken und somit zu der Bildung des Zollvereins gaben. Man wollte kein Prohibitionssystem einrichten, aber doch die inländische Industrie vor dem Untergange bewahren, der ihr zu drohen schien, nachdem man in England sich ganz offen darüber ausgesprochen hatte, die kontinentale Industrie müsse, wenn auch mit Opfern, im Keime erstickt werden.
Eine Durchsicht der Zollsätze der damaligen Zeit für Eisen- und Textilindustrieprodukte und ein Vergleich mit den Sätzen, zu denen der Zollverein in späteren Zeiten gekommen ist, wird jedem die Überzeugung geben, daß bis in die jüngste Zeit hinein ein ziemlich scharfes protektionistisches System in Deutschland regierte.
Während dieser Periode, hat Deutschland und insbesondere Preußen es vermocht:
Selbst die industriearmen Provinzen des Ostens, in denen der englische Import die Oberhand behielt, vermochten sich zu erholen, da sie noch bis in die jüngste Zeit hinein die Kornkammer Englands bildeten.
Eine blühende Textil- und Eisenindustrie entstand in der Mark, in Schlesien, Westfalen und am Rhein. Deutsche Wollen-, Baumwollen- und Leinenwaren vermochten nicht nur den inländischen Bedarf zu decken, sondern auch auf ausländischen Märkten Absatz zu gewinnen, wo die Sorgfalt der Regierungen ihnen durch Handelsverträge Importvergünstigungen zu verschaffen wußte.
Es war eine praktische Verwirklichung des Colbertschen Systems, die in Deutschland Platz gegriffen hatte, des Systems, dessen volle Übereinstimmung mit den Grundlehren von Adam Smith durch Carey überall schlagend nachgewiesen wird, des Systems, welches nicht auf den auswärtigen Handel, sondern auf die Entwicklung des inneren Verkehres das Hauptgewicht legt, den Produzenten überall in unmittelbare Berührung mit dem Konsumenten zu bringen sucht, die willkürliche Verschiebung des natürlichen Marktes hindert und der Klasse der Zwischenhändler eine möglichst geringe Tätigkeit zuweist.
Heute herrscht die entgegengesetzte Strömung: nicht auf den inneren Verkehr, sondern auf den auswärtigen Handel soll das Hauptgewicht gelegt werden; der Export wird als die Lebensfrage für jede Industrie betrachtet, der Markt wird künstlich nach den großen Handelsplätzen zentralisiert, der Lokalverkehr möglichst belastet; der Klasse der Zwischenhändler wird die Hauptrolle im Verkehr zugewiesen. Nach den Stimmungen, welche heute in den maßgeblichen Faktoren die Oberhand gewonnen haben, muß das ganze alte System ein fortgesetzter Fehler gewesen sein; die Handelsverträge sind ein überwundener Standpunkt, und die Grundsätze des Freihandels, d.h. nach den falschen Interpretationen der Manchester-Schule, für die der alte Adam Smith sich bedanken würde, sollen mit Dampf verwirklicht werden, mag die deutsche Industrie auch darüber zugrunde gehen.
Nun hat Deutschland die Hinneigung zum Freihandel, welche schon längst die alten Grundsätze des Zollvereins wesentlich alteriert hatte, ertragen können, solange unsere Nachbarstaaten mit wenig entwickelter Industrie, wie namentlich Österreich, Italien und Rußland (nicht zu ihrem Vorteile) ähnlichen Handelsprinzipien huldigten, solange der amerikanische Markt ein lohnendes Absatzgebiet für deutsche Produkte blieb und Frankreich durch Handelsverträge verhindert war, seine Zölle in dem Grade zu Prohibitionszöllen zu gestalten, wie es dies heute getan. Aber alle diese Dinge haben sich geändert, der nordamerikanische, der russische, der französische Markt sind durch die Prohibitionssysteme dieser Länder zum größten Teil für uns verschlossen; auf dem österreichischen und italienischen Markte schlägt uns die englische Konkurrenz allmählich ebenso aus dem Felde wie auf den außereuropäischen Märkten, auf denen unsere Ware Eingang gefunden hatte – und der eigene innere Markt ist, wie ich oben nachgewiesen, für unsere Textilindustrie schon größtenteils verloren, und für die Eisenindustrie steht dasselbe bevor.
Erwägt man nun dabei, daß Deutschland eine Reihe von Produkten braucht, die Lebensbedürfnisse der Nation geworden sind, wie z.B. Kaffee, Tee, Reis, Baumwolle, Seide, Edelmetalle, und die es selbst gar nicht oder nur in verschwindend kleinen Quantitäten hervorzubringen vermag, umgekehrt aber kein einziges Produkt liefert, daß von anderen Ländern notwendig gebraucht würde: so wird man sich schwerlich wundern können, die Handelsbilanzen dauernd ungünstig für uns ausfallen zu sehen, so lange wir alles dazu tun, um auch die Produkte, welche wir selbst erzeugen können, vom Auslande beziehen zu müssen.
Wenn diesen wirtschaftlichen Zuständen bisher weniger Aufmerksamkeit zugewendet worden ist, als man voraussetzen sollte, so scheint mir, liegt die Schuld wesentlich an der Gewöhnung der vergangenen Jahre, den Zollverein mehr in seiner politischen Bedeutung, als Einigungsband der deutschen Stämme zu betrachten. Man konnte sich ja vielfach mit Recht sagen, daß die Partikulärinteressen und Eifersüchteleien der Einzelstaaten auf seine Wirtschaftspolitik von größerem Einflusse waren, als die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Nation, und so entwöhnte sich diese mehr und mehr, praktisch in die Gestaltung ihres wirtschaftlichen Lebens einzugreifen und wurde mehr und mehr geneigt, Doktrinen und Theorien als unfehlbar anzusehen, die sie bei hergebrachter unmittelbarer Beteiligung an der Bildung einer bestimmten Handelspolitik, meiner Überzeugung nach, längst als praktisch unausführbar und verderblich verworfen haben würde.
Auch wird niemand leugnen, daß die Regierungen ihrerseits ernstlich bemüht waren, durch Handelsverträge den deutschen Waren Eingang in anderen Ländern zu verschaffen und so den Import fremder Fabrikate auszugleichen, während heute die Reichsregierung in dem verhängnisvollen Irrtume befangen ist, daß das deutsche Reich inmitten schutzzöllnerischer Staaten gelegen der Handelsverträge entbehren und sich eine auf eigenen Füßen stehende Freihandelspolitik einrichten könne.
Diese Wirtschaftspolitik wird die Freude aller Zwischenhändler sein, deren Einfluß, Reichtum und Macht in eminenter Weise für sie wachsen muß, und kann allerdings das Resultat herbeiführen, daß Deutschland vielleicht eines der billigsten Länder der Welt wird, woran wiederum alle diejenigen, die als Beamte, Rentiers, etc. eine unwandelbare Geldrente beziehen, ein sehr lebhaftes Interesse haben werden (und diese Klasse der Bevölkerung ist ja gerade in den parlamentarischen Körperschaften sehr stark vertreten). Aber die große Masse der Nation, welche produziert und deren Einkommen von der Einträglichkeit dieser Produktion abhängt – mögen es Arbeiter, Unternehmer oder Kapitalisten, Industrielle oder Landwirte sein – hat allerdings das durchaus entgegengesetzte Interesse. Für diese ist die möglichst hohe Verwertung der Produktion, eine Verwertung, die mindestens annähernd der Verwertung entspricht, welche die gleiche Produktion in anderen zivilisierten Ländern hat, eine Lebensfrage.
Nicht die Billigkeit der Rohprodukte eines Landes ist das Zeichen seiner Zivilisation und seines Wohlstandes – wie Minister Kamphausen zu wähnen scheint, – sondern die möglichste Annäherung der Preise der Fabrikate und der Rohprodukte. Je mehr der Preis der Backware, wie sie zum menschlichen Konsum dient, sich dem des rohen Getreides nähert, je mehr der Preis der Eisen- und Stahlwaren, wie sie zum unmittelbaren Gebrauche dienen, sich dem des Eisenerzes nähert: um so sicherer kann man den Rückschluß ziehen auf den wachsenden Reichtum der Nation; denn diese Annäherung hängt wiederum nicht ab von der Billigkeit der Arbeitslöhne, sondern wesentlich von der Stärke der Nachfrage nach den Rohprodukten, von der maschinellen Vervollkommnung ihrer Verarbeitung, von der Lebendigkeit des inneren Verkehrs, der Schnelligkeit und Häufigkeit des Umsatzes, die ihrerseits wiederum bedingt werden durch möglichst unmittelbare Annäherung der Produzenten und Konsumenten, vorzügliche Verkehrsstraßen und diejenige intellektuelle Ausbildung der Nation, welche nicht alleine auf guten Schulen, sondern ebenso sehr auf der Mannigfaltigkeit und Vielseitigkeit ihrer Produktion beruht.
Wer für Deutschland eine Handelspolitik befürwortet, die diese Ziele verfolgt, braucht nicht dazu zu gelangen, ein Prohibitivsystem gleich dem amerikanischen, französischen oder russischen herbeizuwünschen, das in Deutschland gerade wegen unserer geographischen Lage im Herzen Europas mutmaßlich ganz andere Resultate haben würde, als dort: – sondern er kann (mit dem Minister Kamphausen) mäßige Schutzzölle für dasjenige System erachten, welches sich für unser Vaterland vorzugsweise eignet. Aber wenn diese Schutzzölle überhaupt einen Sinn haben sollen, werden sie allerdings so gestaltet sein müssen, daß die deutsche Industrie auf dem einheimischen Markte einen gewissen – wenn auch geringen – Vorzug zu behaupten im Stande ist.
Will man dies nicht gelten lassen, so möge man es immerhin einmal mit dem radikalen Freihandel versuchen. Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende! Wenige Jahre eines solchen Versuches werden meiner Überzeugung nach genügen, das Land über seine wahren Interessen aufzuklären und das Übergewicht zu vernichten, welches heute die Stimmen der Seehandelsplätze, der Zwischenhändler und der verblendeten Agrarier in den maßgebenden Faktoren für den radikalen Freihandel in die Waagschale werfen.
Deutschland ist reich genug, um ein solches Experiment ertragen zu können, das sicher in kürzester Frist zu einer gesunden Handelspolitik zurückführt, aber nicht reich genug, eine Handels- und Finanzpolitik dauernd zu behalten, welche wie eine schleichende Krankheit langsam das Mark des Volkes verzehrt.
Mit gerechtem Stolze haben wir es 1866 wie 1870 empfunden, daß nicht – um mit des alten Blüchers Worten zu reden – die Federn der Diplomaten die Erfolge deutscher Schwerter zunichte gemacht haben, sondern daß die Weisheit und Energie des Fürsten Bismarck dem deutschen Volke die Früchte seiner Siege unverkümmert erhalten hat. Aber möge die deutsche Nation darauf achten, daß ihr nicht auf wirtschaftlichem Gebiete die Kraft entzogen wird, jene politische Machtstellung zu behaupten, welche die einige Vaterlandsliebe und Tapferkeit der deutschen Stämme im heißen Kampfe errang, und welche das Genie des großen Staatsmannes, dem die Leitung unserer äußeren Politik anvertraut ist, so glücklich und vielverheißend zu gestalten vermochte. Möge sie dessen eingedenk bleiben, daß eine falsche Wirtschaftspolitik nicht alleine die Verarmung, sondern auch die Wehrlosigkeit Deutschlands zur notwendigen Folge haben muß, und sich der ernsten Prüfung nicht entziehen, ob die Bahnen unserer heutigen, nach den Grundsätzen der Manchesterschule geleiteten Handelspolitik heilbringende oder verderbliche sind.
Im Begriffe, die vorstehende kleine Schrift dem Druck zu übergeben, werde ich von befreundeter Seite auf eine Publikation des Herrn von Unruh in der „Gegenwart“, – die volkswirtschaftliche Reaktion – aufmerksam gemacht, die ich allen zu Lektüre empfehlen kann, welche das ABC der Manchester-Schule übersichtlich, kurz und faßlich zusammengestellt sehen wollen: ein ABC, das mir um so geläufiger ist, als ich es Jahre hindurch mit dem Glauben an seine Unfehlbarkeit nachgebetet habe.
alle diese Lehren, die ich heute als ebenso viele Irrtümer zu betrachten gelernt habe, sind hier in der populären Form vorgetragen, die Herrn von Unruh so gut zu Gebote steht, und wenn es mir alleine darauf ankäme, Recht zu behalten, könnte ich nur den Wunsch wiederholen, daß einmal der Versuch mit der Verwirklichung dieser Grundsätze praktisch gemacht würde, um Deutschland über ihren Wert zu belehren.
Selbst Stuart Mill26, den niemand für engherzig oder befangen erachten wird, läßt noch Schutzzölle bedingungsweise als notwendig und wohltätig gelten und erkennt an, daß billige Nahrungsmittel und große Industrien als unverträgliche Dinge nach der Erfahrung der verschiedenen Länder erscheinen.
Das ist aber natürlich für unsere deutschen Manchestermänner, Herrn von Unruh an der Spitze, ein längst überwundener Standpunkt. Sicher hat Herr von Unruh Recht, daß unsere wirtschaftliche Krisis mit der Überspekulation hervorgegangen ist. Aber ich frage, wie kann eine Nation eine solche vermeiden, wenn sie in kurzen Fristen Milliarden aufnehmen muß und durch Kündigung der Staatsschulden kolossale Kapitalien gezwungen werden, neue Anlagen und Verwendungen aufzusuchen? – und behaupte meinerseits, daß die Krisis heftig potenziert und zu einer chronischen Krankheit doch erst durch unsere verkehrte Handelspolitik geworden ist und die falsche Behandlung unseres Geldmarktes. (cf. die Tatsache, daß die englische Industrie mit einem Diskontsatz von 2 ½ Prozent, die unsrige mit einem solchen von 6 Prozent arbeitet.)
Daß Herr von Unruh deduktiv von der Unanfechtbarkeit seiner Voraussetzungen überzeugt ist und dies in nachdrücklicher Sprache dokumentiert, ist natürlich – ob ihm der induktive Nachweis geglückt ist, daß der Freihandel die Länder reich mache oder mir der Gegenbeweis, überlasse ich der Beurteilung unserer Leser.