06131-237384info@bueso.de

Globale Mehrheit will friedliche Entwicklung

Von Stephan Ossenkopp

Letztlich gibt es für Deutschland nur eine realistische Möglichkeit, der Eskalation zum Weltkrieg, dem Zusammenbruch seines Wohlstandes und dem endgültigen Niedergang seiner Kultur zu entgehen. Und das ist, sich mit den Interessen der großen Mehrheit der Länder der Welt zu verbünden, statt sich als Vasall der NATO und der neoliberalen Elite immer weiter sein eigenes Grab zu schaufeln.

Woraus bestehen diese Interessen? Es geht um nichts weniger als um den Aufbau einer globalen Ordnung, in der alle Staaten und Kulturen eine Perspektive der Entwicklung und des gegenseitigen Respekts besitzen. Wir reden nicht von einer fernen Utopie, sondern von einem Projekt historischen Ausmaßes, an dem bereits mit Hochdruck gearbeitet wird. Es erfordert jedoch ein hohes Maß an Eigeninitiative, sich einen gewissen Überblick zu verschaffen angesichts der nahezu lückenlosen Informationssperre und dem Bemühen der Medien, eine diametral entgegengesetzte Weltsicht zu propagieren.

Doch selbst hierzulande sickert mittlerweile durch, was nach Ansicht der Systemhüter eigentlich nicht wahr sein darf, nämlich dass nichts von dem funktioniert, was man der Öffentlichkeit weismachen will. So wurde selbst in den britischen Establishment-Publikationen The Spectator und Daily Telegraph ernüchtert festgestellt, dass selbst die schärfsten Sanktionen aller Zeiten gegen Russland im Bereich Handel, Finanzen und Technologie nichts gebracht haben und „ein Witz“ sind. Alastair Crooke, ein ehemaliger Top-Diplomat und Geheimdienstler Großbritanniens, brachte es auf den Punkt, als er schrieb, der Westen habe „übertriebene Ansichten über den Einfluss des Westens in der Welt“, und dass „die wahnhafte Selbstüberschätzung westlicher Politiker“ ihnen Scheuklappen verpasst hätten, so dass sie „nicht erkennen konnten, was direkt vor ihren Augen lag.“

Wahnhafte Verblendung

Giorgio Romano Schutte, Professor an der Universidade Federal do ABC in Brasilien und enger Berater des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio da Silva, formulierte es so: „Der Krieg in der Ukraine bringt eine Reihe harter Realitäten ans Licht. Führende europäische Politiker und Meinungsmacher beweisen, dass sie nicht die geringste Ahnung von den Ansichten und Erwartungen der nichtwestlichen Welt haben, die heute als 'globaler Süden' bekannt ist“. Die Erwartungen, von denen Schutte spricht, sind der fast universelle Wunsch nach friedlicher Zusammenarbeit beim Wiederaufbau einer Welt, die durch die Folgen des nie wirklich überwundenen Kolonialismus und zahlloser militärischer Interventionen, vor allem der NATO, zerrüttet ist.

Das ist das Motiv, warum Präsident Da Silva einen Friedensclub der Nationen organisiert, anstatt Waffen oder Munition in die Ukraine zu liefern. Auch China, die Türkei und der Vatikan, um nur die prominentesten zu nennen, setzen sich für eine rasche Verhandlungslösung im Ukraine-Konflikt ein, bevor eine rote Linie zu weit überschritten wird und es kein Zurück mehr aus dem Dritten Weltkrieg gibt. Die sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländer wissen, dass ein solcher Krieg auch ihre Existenz vernichten würde. Und sie wissen auch, dass eine Welt, die in feindliche Blöcke gespalten und von eingefrorenen und immer wieder aufflammenden Konflikten übersät ist, letztlich nur in ein globales dunkles Zeitalter führen kann. Das ist der Grund, warum die Mehrheit der Staaten zwar den Ukraine-Konflikt verurteilt, sich aber den Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen hat. Der „wahnhaft verblendete“ Westen versteht und vertritt eben in keiner Weise die Erwartungen des globalen Südens.

Russland ist nicht isoliert

Es gibt viele Beweise dafür, dass Russland weder isoliert noch dämonisiert ist. Derzeit finden sowohl bilateral als auch multilateral zahlreiche große Events statt, auf denen mit Russland wirtschaftlich und technologisch kooperiert wird. Auf dem Eurasischen Wirtschaftsform wurde im Mai die Eurasische Integration in einer Multipolaren Welt erörtert. Dabei soll die Eurasische Wirtschaftsunion mit der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit und den BRICS-Ländern in Einklang gebracht werden.

Beim Forum zwischen Russland und der islamischen Welt Mitte Mai kamen in der Stadt Kasan über 16.000 Teilnehmern aus 80 Ländern zusammen, um die Beziehungen in den Bereichen Handel, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Soziales und Kultur zwischen Russland und den Ländern der Organisation für Islamische Zusammenarbeit zu stärken. Auch beim St. Petersburger Weltwirtschaftsforum im Juni 2023 sind erneut nahezu 15.000 Besucher aus über 100 Nationen zu Gast, um über für die wichtigsten wirtschaftlichen Fragen, mit denen Russland, die Schwellenländer und die Welt insgesamt konfrontiert sind, zu diskutieren.

Eines der zentralen Projekte stellt der Internationale Nord-Süd-Transportkorridor (INSTC) dar, der 7.200 Kilometer Schifffahrts-, Eisenbahn- und Straßenverbindungen umfasst, die Mumbai in Indien mit St. Petersburg in Russland verbinden soll und entscheidende Veränderungen im Welthandel bewirken wird. Erst kürzlich wurden Pläne veröffentlicht, den Korridor bis 2027 fertigzustellen.

Für den Russland-Afrika Gipfel im Juli werden Delegationen aus allen 54 Staaten Afrikas erwartet, von denen die große Mehrheit von Staatsoberhäuptern angeführt werden wird. Ziel des Russland-Afrika-Gipfels ist die Förderung einer umfassenden und gleichberechtigten Zusammenarbeit zwischen Russland und den afrikanischen Staaten in den Bereichen Politik, Sicherheit, Wirtschaftsbeziehungen, Wissenschaft und Technologie sowie im kulturellen und humanitären Bereich.

Neue Seidenstraße

Im Jahr 2013 verkündete der chinesische Staatspräsident Xi Jinping die Initiative Neue Seidenstraße und die Maritime Seidenstraße des 21. Jahrhunderts. Nach nunmehr zehn Jahren ist sie eine der erfolgreichsten Plattformen überhaupt für die Entwicklung der Infrastruktur und den Handel zwischen den Ländern. Die Zahl der Länder, die sich der Seidenstraßeninitiative (BRI) durch die Unterzeichnung einer Absichtserklärung mit China angeschlossen haben, beläuft sich nach Angaben vom März 2022 auf 148. Deutschland fehlt bislang und beruft sich auf die Zuständigkeit der Europäischen Union. Doch die EU hat das Projekt erst ignoriert und dann schlecht geredet. Der von der EU vorgelegte eigene Entwurf für Infrastrukturinvestitionen leidet unter dem Geburtsfehler, dass private Investoren mangels Profit gerade nicht am Aufbau von Infrastruktur in Entwicklungsländern interessiert sind.

Die EU-Handelskammer in China schrieb in einem Bericht unverblümt: "Obwohl der EU-Ansatz für Konnektivität Offenheit, Transparenz, Nachhaltigkeit und hohe Standards betont, verblasst er im Vergleich zur BRI, weil er derzeit unbekannt, unterentwickelt, langsam und schwerfällig in der Projektumsetzung ist. Trotz all ihrer Mängel ist die BRI voll entwickelt, sucht proaktiv nach Partnern und Projekten, liefert schnell Ergebnisse und wird von führenden Politikern auf der ganzen Welt beachtet". Jüngsten Erhebungen zufolge wurden in den letzten zehn Jahren 3.000 Kooperationsprojekte mit einem Investitionsvolumen von rund einer Billion US-Dollar auf den Weg gebracht.

BRICS & Co.

Als Reaktion auf die Uneinsichtigkeit des Westens werden die multilateralen Plattformen des globalen Südens und Asiens mit Zuspruch überhäuft. Für den 15. BRICS-Gipfel Ende August im südafrikanischen Durban werden formelle und informelle Beitrittserklärungen von mindestens 20 weiteren Staaten erwartet. Der Druck auf den Westen, grundlegende Wirtschaftsreformen, Sicherheits- und Entwicklungspläne vorzulegen, die den Interessen aller Länder gerecht werden, wird kurzfristig einen Entscheidungspunkt erreichen. Es liegt im deutschen Interesse, auf diese strategische Verschiebung der internationalen Ordnung positiv und nicht ablehnend zu reagieren.

Deutschland könnte seinen Industrieunternehmen, insbesondere den mittelständischen Maschinenbauunternehmen und den Hidden Champions, nahezu unbegrenzte Möglichkeiten eröffnen, zu fairen Bedingungen an der Zukunftsgestaltung der Welt mitzuwirken. Der Bau von Wasserinfrastrukturen und interkontinentalen Verkehrswegen, die Mechanisierung der Landwirtschaft, der Aufbau von Leicht- und Schwerindustrie, von Bildungs- und Kulturzentren – all dies würde nicht nur der deutschen Wirtschaft neue Aufträge und Märkte erschließen und damit das Land aus der Rezession führen, sondern auch die Beziehungen zwischen Deutschland und dem Rest der Welt auf eine neue Ebene heben.

Eine zentrale Aufgabe muss der Wiederaufbau Afghanistans sein, das durch jahrzehntelange Kriege und illegale Sanktionen so weit zurückgeworfen wurde, dass es einer globalen Anstrengung bedarf, um diesem geschundenen Land eine Entwicklungsperspektive zu geben. Längst werden Pläne diskutiert und umgesetzt, etwa regionale Wasser-, Energie- und Eisenbahnprojekte. Die NATO-Staaten, auch Deutschland, können sich hier ihrer Verantwortung nicht entziehen. Das jüngste Gipfeltreffen zwischen China und den Staaten Zentralasiens bietet dabei einen willkommenen Ansatzpunkt. In der "Erklärung von Xi'an" vom 19. Mai heißt es: "Alle Parteien sind bereit, weiterhin mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, um das afghanische Volk bei der Aufrechterhaltung von Frieden und Stabilität, dem Wiederaufbau der sozialen Infrastruktur und der Integration in das regionale und globale Wirtschaftssystem zu unterstützen". Es wäre ein Leichtes, diese Erklärung mit Worten und Taten zu unterstützen.

Eine neue Blütezeit

Darüber hinaus sollte Deutschland die Wiederaufnahme Syriens in die Arabische Liga und die wegweisende Normalisierung der Beziehungen zwischen Iran und Saudi-Arabien begrüßen. Damit eröffnet sich nicht nur die historisch einmalige Chance, die Stellvertreter- und Interventionskriege, in die der Westen tief verstrickt ist, zu beenden, sondern auch die gesamte Region Westasien und Nordafrika von Libyen über den Jemen bis zum Irak und darüber hinaus wieder aufzubauen. Das bedeutet, die grausame Sanktionspolitik aufzuheben und die Region in die Seidenstraßen-Initiative einzubinden. Die deutsche Industrie könnte dazu beitragen, dass Städte wie Raqqa in Syrien, Sanaa im Jemen oder die irakische Hauptstadt Bagdad wieder aufblühen.

Jetzt, wo sich der größte Teil der Welt neu vernetzt und ein neues Zeitalter der friedlichen Entwicklung und der Überwindung von Hindernissen beginnt, darf sich Deutschland nicht für die Schimäre der Aufrechterhaltung einer Ordnung opfern, deren Spekulationsorgien und Regime-Change-Kriege die Menschheit an den Rand des Bankrotts und der totalen Verwüstung geführt haben. Es wäre absurd und einer Nation, die Friedrich Schiller und Gottfried Leibniz hervorgebracht hat, unwürdig, widerstandslos auf dieser abschüssigen Bahn ins Verderben zu stürzen. Es ist höchste Zeit, dass Deutschland und die anderen Europäer der globalen Mehrheit auf Augenhöhe begegnen und die dingend notwendige gerechte Weltwirtschaftsordnung mitgestalten.