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Helga Zepp-LaRouche: Die Notwendigkeit eines neuen Paradigmas

Helga Zepp-LaRouche, Gründerin und Vorsitzende des Schiller-Instituts eröffnete mit dieser Rede die internationale Konferenz des Schiller-Instituts am 9. April "Eine Neue Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur für alle Nationen". Die Videos dieser beeindruckenden Konferenz  mit Teilnehmern aus mehr als 60 Ländern von vier Kontinenten können Sie hier ansehen (deutsch).

Liebe Konferenzteilnehmer aus aller Welt!

Was uns heute hier mit Teilnehmern aus mehr als 60 Ländern von vier Kontinenten zusammenführt, ist unsere große Sorge, daß die Existenz der Menschheit in großer Gefahr ist. Ziel unserer Konferenz ist es, das Bewußtsein immer größerer gesellschaftlicher Kräfte auf der ganzen Welt dafür zu wecken, daß es wegen der sich gegenwärtig zuspitzenden Gefahr einer strategischen Konfrontation bald zu einem umfassenden militärischen Engagement zwischen der NATO und Rußland kommen könnte, das in einem Weltkrieg enden könnte, der aller Wahrscheinlichkeit nach die Auslöschung der Menschheit in einem anschließenden nuklearen Winter bedeuten würde.

Das Ziel unserer Konferenz ist es daher, auf eindringliche Weise zu demonstrieren, daß es eine unmittelbar machbare Alternative gibt - ein neues Paradigma, das diese tödliche Bedrohung hinter sich lassen kann und eine neue Ära der Menschheitsgeschichte im Einklang mit der wahren Natur der Menschheit als der einzigen bisher bekannten vernunftbegabten Spezies einleiten kann.

Die Gefahr eines großen Krieges hat nicht am 24. Februar dieses Jahres begonnen. Wie Lyndon LaRouche schon im August 1971 voraussagte, nachdem Nixon die festen Wechselkurse des Bretton-Woods-Systems durch frei schwankende Wechselkurse abgelöst hatte, mußte eine Fortsetzung dieser monetaristischen Politik - wenn sie nicht korrigiert wird - unweigerlich zu einem neuen Faschismus und einem neuen Weltkrieg führen. Und genau da sind wir jetzt, 50 Jahre später, angelangt. Die akute Gefahr eines großen Krieges rührt daher, daß sich das transatlantische neoliberale Finanzsystem bereits vor dem Krieg in der Ukraine im fortgeschrittenen Stadium des Zusammenbruchs mit dem Ausbruch der Hyperinflation eines hoffnungslos bankrotten Systems befand.

Die wahren Gründe des Krieges

Um die wahren Gründe für die Ukraine-Krise zu verstehen, muß man zu den Gründen zurückgehen, warum nach dem Zerfall der Sowjetunion die große historische Chance für den Aufbau einer echten Friedensordnung, wie wir sie damals mit dem Programm der Eurasischen Landbrücke vorgeschlagen haben, verpaßt wurde. Ein guter Einstiegspunkt - ein Fenster, um einen Einblick zu bekommen - ist ein Dokument, das der New York Times im März 1992 von einem Whistleblower zugespielt wurde und das als die „Wolfowitz-Doktrin“ bekannt wurde, die im Geiste des „Projekts für ein Neues Amerikanisches Jahrhundert“ entstand. Darin hieß es, zur Mission der USA gehöre es, die Rolle der USA als die einzige Supermacht in der Welt nach dem Ende der Sowjetunion zu sichern, die über genügend militärische Macht verfügt, um jede Nation oder Gruppe von Nationen davon abzuhalten, Amerikas Vorrangstellung in Frage zu stellen. Am 8. März. 1992 schrieb die New York Times: „...das Pentagon dokumentiert die bisher deutlichste Ablehnung des kollektiven Internationalismus, der Strategie, die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorging, als die fünf Siegermächte versuchten, die Vereinten Nationen zu gründen, die Streitigkeiten schlichten und Gewaltausbrüche kontrollieren könnten“.

Die Wolfowitz-Doktrin war der eigentliche Grund dafür, daß das Versprechen, das Außenminister James Baker im Februar 1990 bei drei verschiedenen Gelegenheiten gegenüber Gorbatschow abgegeben hatte, die NATO werde sich „nicht einen Zoll“ nach Osten ausdehnen, nicht eingehalten wurde. Die Wolfowitz-Doktrin, die sich auf die anglo-amerikanischen Sonderbeziehungen stützt, war das Grundaxiom für eine ganze Reihe von politischen Maßnahmen, angefangen bei der sogenannten „Schocktherapie“, den vom IWF unterstützten liberalen Reformen in Rußland in den 90er Jahren, die angesichts des Rohstoffreichtums und der wissenschaftlichen Erfahrung Rußlands ausdrücklich darauf abzielte, einen potentiellen künftigen Konkurrenten auf dem Weltmarkt auszuschalten, und die die industrielle Kapazität Rußlands von 1991 bis 1994 auf nur noch 30% reduzierte. Die Doktrin war auch die Grundlage für die verschiedenen Interventionskriege im Irak, die Bombardierung Jugoslawiens, die Kriege gegen Afghanistan, Libyen, Syrien sowie die fünf NATO-Osterweiterungen.

Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 war ein dramatischer Protest gegen die Umsetzung der unipolaren Welt, der im wesentlichen ebenso unbeantwortet blieb wie die verschiedenen Definitionen „roter Linien“ bezüglich der zentralen Sicherheitsinteressen Rußlands - bis hin zu der jüngsten, die Putin am 17. Dezember gegenüber den USA und der NATO formulierte. Es geht um den Konflikt zwischen dem Anspruch, im wesentlichen eine unipolare Welt aufrechtzuerhalten, und der Entstehung einer multipolaren Welt, als das natürliche Ergebnis des wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas, der Anziehungskraft der Gürtel- und Straßen-Initiative (BRI) auf mehr als hundert Länder, der strategischen Partnerschaft zwischen Rußland und China und in jüngster Zeit der Weigerung vieler Länder wie Indien, Pakistan, Brasilien, Südafrika und anderer, in die geopolitische Konfrontation zwischen dem Westen und Rußland und China hineingezogen zu werden. Dieser Konflikt ist der Kern der derzeitigen Gefahr.

Es ist schrecklich, daß mitten in Europa Krieg herrscht, aber genauso schrecklich waren die Kriege im Irak, in Afghanistan, in Libyen, in Syrien, im Jemen usw., doch sie wurden in den Nachrichten kaum erwähnt. Und hat irgendjemand geglaubt, daß das russische Militär zu anderen Schlußfolgerungen kommen könnte, als es sah, wie immer härtere Sanktionen verhängt wurden, wie verschiedene Szenarien der Rand-Denkfabrik durchgespielt wurden und wie westliche Politiker im Chor davon sprachen, die russische Wirtschaft zu „vernichten“, Putin zu „vernichten“ und das russische System zu „vernichten“ - die größte Atommacht der Welt? Und nun, nachdem die Verhandlungen zwischen russischen und ukrainischen Delegationen in der Türkei einen ersten hoffnungsvollen Schritt erreicht hatten, dienen Bilder von Kriegsgräueln dazu - ohne auch nur eine Minute der Unschuldsvermutung bis zum Beweis der Schuld -, weitere Sanktionen zu verhängen, Diplomaten auszuweisen und offen mit dem Bankrott Rußlands zu drohen.

Diese Politik zielt offen auf einen Regimewechsel ab, in dem Bemühen, nicht nur Putin, sondern ganz Rußland auf unbestimmte Zeit zu einem Paria unter den Nationen zu machen, es aus dem UN-Sicherheitsrat, sogar aus der UNO und der G20 auszuschließen, was diese Institutionen zerstören würde. Sie wird die vollständige politische und wirtschaftliche Entkopplung zwischen dem Westen und Rußland und China bewirken. Diese Politik richtet schon jetzt weltweit verheerende Schäden in der Realwirtschaft an, in den sogenannten Versorgungsketten, und sie katapultiert die Zahl potentieller Opfer einer globalen Hungersnot auf eine Milliarde Menschen, das ist ein Achtel der Menschheit! In vielen Ländern des Nahen Ostens, Afrikas, Lateinamerikas gibt es bereits Hungerproteste. Gleichzeitig droht durch die Inflation der Preise für Lebensmittel, Energie und Rohstoffe die Hälfte der Industrieproduktion in vielen Ländern wegzubrechen, es drohen Massenarbeitslosigkeit und ein totaler Zusammenbruch ins Chaos.

Ein neues System entsteht

Ein neues System ist bereits im Entstehen, mit China und der BRI, Rußland, Indien und anderen im Mittelpunkt. Es gibt viele neue strategische Ausrichtungen, die SCO (Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit), die BRICS (Brasilien-Rußland-Indien-China-Südafrika), die Beziehungen zwischen der OIC (Organisation der Islamischen Konferenz) und China, die vielen Beziehungen zwischen dem globalen Süden.

Aber selbst das Konzept einer multipolaren Welt löst das Problem nicht, denn es birgt immer noch die Gefahr einer geopolitischen Konfrontation. Wir brauchen eine dramatische, plötzliche Veränderung in der Art und Weise, wie wir unsere Angelegenheiten organisieren. Sie muß mit der ehrlichen, expliziten Einsicht beginnen, daß man bei einer Fortsetzung der gegenwärtigen Politik einen Konflikt riskiert, bei dem es keinen Gewinner gibt, und daß deshalb eine neue Friedenskonferenz in der Tradition des Westfälischen Friedens notwendig ist.

Die Erkenntnis, daß Friedensverhandlungen die einzige verbleibende Option waren, dämmerte damals den Kriegsparteien nach 150 Jahren Religionskrieg in Europa, von denen der Dreißigjährige Krieg nur der Höhepunkt war, denn sie erkannten, daß niemand mehr am Leben sein würde, der den Sieg genießen könnte, wenn der Krieg weiterginge. Heute wären in einem Atomkrieg viele Städte innerhalb von Stunden tot, und der Rest der Menschheit würde in einer atomar verseuchten Welt so lange leiden, bis entweder alles Leben endet oder die wenigen unglücklichen Überlebenden sich den Kopf zerbrechen, warum die Menschheit unfähig war, ihre eigene Zerstörung zu verhindern.

Deshalb muß unverzüglich eine Dringlichkeitskonferenz im Geiste des Westfälischen Friedens einberufen werden, auf der „um des Friedens willen alle Verbrechen, die von der einen oder anderen Seite begangen wurden, vergeben und vergessen werden müssen“ und „um des Friedens willen jede Politik die Interessen der anderen berücksichtigen muß“.

Die Absicht muß sein, eine neue internationale Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur zu schaffen, die den Sicherheitsinteressen aller Länder auf dem Planeten Rechnung trägt. Es muß einen sofortigen Waffenstillstand geben. Und wir müssen ein neues Kreditsystem schaffen, welches das bankrotte Finanzsystem, als die eigentliche Ursache für die Kriegsgefahr, ablöst. Dieses muß auf den Prinzipien des ursprünglichen Bretton-Woods-Systems beruhen, wie es von Franklin Roosevelt beabsichtigt war, aber aufgrund seines zu frühen Todes nie umgesetzt wurde.

Diese Prinzipien, die Lyndon LaRouche in einem Entwurf für ein Memorandum zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion skizzierte, das am 30. März 1984 veröffentlicht wurde, nachdem die Sowjetunion Präsident Reagan Angebots abgelehnt hatte, bei der technologischen Überwindung von Atomwaffen zusammenzuarbeiten, sind auch heute noch absolut gültig.

In diesem Memorandum heißt es:

„Artikel 1: Allgemeine Bedingungen für den Frieden

Die politische Grundlage für einen dauerhaften Frieden muß sein: a) die bedingungslose Souveränität aller Nationalstaaten und b) die Zusammenarbeit zwischen souveränen Nationalstaaten mit dem Ziel, unbegrenzte Möglichkeiten zur Teilhabe an den Vorteilen des technischen Fortschritts zum gegenseitigen Nutzen aller zu fördern.

Das wichtigste Merkmal der heutigen Umsetzung einer solchen Politik für dauerhaften Frieden ist eine tiefgreifende Veränderung der monetären, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen den dominierenden Mächten und den relativ untergeordneten Nationen, die oft als ,Entwicklungsländer‘ bezeichnet werden, denn ohne eine schrittweise Beseitigung der aus dem modernen Kolonialismus herrührenden Ungerechtigkeiten kann es keinen dauerhaften Frieden auf diesem Planeten geben.

Soweit die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion - heute: die Russische Föderation und die Volksrepublik China - anerkennen, daß der Fortschritt der produktiven Kräfte der Arbeit auf dem gesamten Planeten im vitalen strategischen Interesse aller liegt, sind diese Mächte in diesem Maße durch ein gemeinsames Interesse verbunden. Das ist der Kern der politischen und wirtschaftlichen Praxis, die für die Förderung eines dauerhaften Friedens zwischen diesen Mächten unerläßlich ist.“

Das Engagement für ein globales Programm zur Armutsbekämpfung, wie es z.B. im Bericht des Schiller-Instituts „Die neue Seidenstraße wird zur Weltlandbrücke“ skizziert wird, oder die Vorschläge Chinas für eine Zusammenarbeit zwischen der BRI, dem Build Back Better-Programm der USA und dem Global Gateway-Programm der EU können zum eigentlichen Entwicklungsfundament für eine globale Sicherheitsarchitektur werden. Die Ukraine kann, anstatt als Kanonenfutter in einer geopolitischen Konfrontation zu dienen, die Brücke zwischen Europa und den anderen eurasischen Nationen sein.

Angesichts der gegenwärtigen Pandemie und der Gefahr künftiger Pandemien muß in jedem Land ein modernes Gesundheitssystem aufgebaut werden. Angesichts der Hungersnot, die das Leben von einer Milliarde Menschen bedroht, und des zu erwartenden Bevölkerungswachstums müssen die Regierungen Sofortmaßnahmen ergreifen, um die Nahrungsmittelproduktion zu verdoppeln und eine gesunde Ernährung für alle Menschen zu gewährleisten.

Das Völkerrecht, wie es sich aus dem Westfälischen Frieden entwickelt hat und in der UN-Charta festgeschrieben wurde, muß ohne jede Einschränkung wiederhergestellt werden. Die „Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz“ müssen die Leitlinien für die Zusammenarbeit aller Nationen sein.

Die gegenwärtige existenzielle Krise hat gezeigt, daß die Menschheit entweder eine gemeinsame Zukunft hat oder gar keine, und daß wir das Interesse der einen Menschheit über alle nationalen Interessen stellen müssen, und daß von nun an jedes nationale Interesse im Einklang mit dem Interesse der Menschheit als Ganzes stehen muß.

Es ist ein Ausdruck des Reichtums unserer menschlichen Zivilisation, daß sie verschiedene Kulturen hervorgebracht hat. Wir müssen den Dialog der besten Traditionen dieser Kulturen, der schönsten Schöpfungen in Wissenschaft und Kunst als Beweis für die einzigartige Kreativität des Menschen fördern und auf diese Weise eine neue Renaissance schaffen, die eine neue Ära der Menschheit einleiten wird.

Wir werden den Haß und die Vorurteile gegenüber anderen Kulturen, die nur bestehen, wenn wir sie nicht kennen, durch eine zärtliche Liebe zur gesamten Menschheit ersetzen, denn der Mensch ist das wertvollste Gut im bekannten Universum.