Von Alexander Hartmann
Es sind nur noch wenige Tage bis zum Heiligen Abend. Vor drei Wochen haben in Bethlehem die Oberhäupter der wichtigsten christlichen Gemeinden, darunter die griechisch-orthodoxe, die syrische, die armenische, die katholische und die lutherische, einen Brief an US-Präsident Biden geschrieben, in dem sie zu einem Waffenstillstand in Palästina aufrufen. Drei von ihnen – man ist versucht zu sagen „drei Weise“ – überbrachten persönlich in Washington den Brief. Darin heißt es unter anderem:
„Sehr geehrter Präsident Joseph R. Biden Jr., 46. Präsident der Vereinigten Staaten, wir überbringen Ihnen Grüße im Namen der christlichen Gemeinde in Bethlehem, der Stadt unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus, des Friedensfürsten. Nächste Woche sollten wir unsere Advents- und Weihnachtszeit beginnen. Das sollte eine Zeit der Freude und der Hoffnung sein. Dieses Jahr ist es eine Zeit des Todes und der Verzweiflung… Dieses Jahr werden die Weihnachtsfeiern in Bethlehem abgesagt…
Wir schreiben Ihnen, um Sie zu bitten, uns zu helfen, diesen Krieg zu beenden. Gott hat politische Führer in eine Machtposition gebracht, damit sie Gerechtigkeit bringen, die Leidenden unterstützen und Werkzeuge des Friedens Gottes sein können. Wir wollen einen dauerhaften und umfassenden Waffenstillstand. Genug Tod. Genug der Zerstörung. Das ist eine moralische Verpflichtung. Es muß andere Wege geben…“
Wenn er wollte, könnte Präsident Biden einfach zum Telefonhörer greifen und dem israelischen Premierminister Netanjahu sagen: „Entweder hört das Töten jetzt auf, oder alle finanzielle und militärische Hilfe wird eingestellt.“ Statt dessen gaukelt Biden der Öffentlichkeit vor, ein freundlicher Appell an Netanjahu würde ausreichen, um Israel endlich zu einer Zweistaatenlösung zu bewegen.
Wegen dieser Haltung Bidens gibt es in diesem Krieg ein weiteres Opfer – das weltweite Ansehen der Vereinigten Staaten. Nicht Putins Rußland oder Xi Jinpings China sind heute isoliert und der größte „Außenseiterstaat“ der Welt. Diesen Titel haben sich die Vereinigten Staaten verdient, speziell bei der Abstimmung in der UN-Vollversammlung am 12. Dezember, wo sie sich weiter vehement weigerten, einen „sofortigen humanitären Waffenstillstand“ zuzulassen, um das Sterben in Gaza zu beenden. 153 Länder stimmten für den Waffenstillstand – über hundert davon waren sogar Mit-Antragsteller –, aber mit den USA nur ganze neun dagegen, eines davon Israel. Mit den USA votierten nur zwei iberoamerikanische Staaten (Guatemala und Paraguay), ein einziger afrikanischer Staat (Liberia) und in Asien drei pazifische Inselstaaten (Mikronesien, Nauru, Papua-Neuguinea; Nauru hat 12.000 Einwohner).
Die auf ihre „Einigkeit“ so stolze G7 waren völlig gespalten. Drei der sieben stimmten für den Waffenstillstand (Frankreich, Japan und Kanada; die letzteren beiden hatten sich bei der vorherigen UN-Abstimmung am 26. Oktober noch enthalten); drei enthielten sich erneut (Italien, Deutschland und Großbritannien), die Vereinigten Staaten standen allein und waren die einzige „Nein“-Stimme.
Amerika als selbsternannter „Anführer des freien Westens“ war nicht nur in der G7 isoliert, sondern auch in Europa, wo nur zwei Staaten gegen den Waffenstillstand stimmten (Österreich und Tschechien). Viele europäische Länder, die sich zuvor der Stimme enthalten hatten, schlossen sich der Mehrheit der Welt an und forderten einen Waffenstillstand – darunter Dänemark, Griechenland, Polen, Schweden, Serbien, Kroatien, Lettland und das neue NATO-Mitglied Finnland, um nur einige zu nennen. Die BRICS-plus-Gruppe einschließlich der fünf neuen Mitglieder votierte geschlossen für einen Waffenstillstand.
Aber es sind nicht nur die Vereinigten Staaten, die den Respekt der Welt verlieren, dies gilt für den „Westen“ insgesamt. Ein Gastkommentar in der Londoner Financial Times vom 12. Dezember zieht einige aufschlußreiche Schlußfolgerungen über den anhaltenden Niedergang der Position des Westens in der Welt. Der Autor Kishore Mahbubani ist ehemaliger Diplomat und geopolitischer Berater aus Singapur, der elf Jahre lang Singapurs Botschafter bei den Vereinten Nationen war und 2001 und 2002 den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat innehatte. Die Überschrift lautet: „Es ist an der Zeit, daß der Westen und der Rest der Welt auf Augenhöhe miteinander sprechen.“
Mahbuhani beginnt mit der Feststellung, daß der Westen nach seiner jahrhundertelangen Führungsrolle „diesen Respekt jetzt verliert“. Nicht die „westlichen Werte“ hätten den Westen überlegen gemacht, sondern seine „Leistungsfähigkeit“. Das sei auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Fall gewesen, aber jetzt sei es erodiert: „Inkompetenz ist an die Stelle von Kompetenz getreten. Gesellschaften, die einst gut organisiert waren, sind zutiefst gestört und politisch instabil geworden.“
Der ehemalige Diplomat beschreibt, daß Asien inzwischen mehr als der Westen zum Wachstum der Weltwirtschaft beiträgt, auch wenn die westlichen Länder bisher noch ein größeres BIP haben. Und in Bezug auf die Geopolitik erinnert er daran, daß trotz der uneingeschränkten Unterstützung des Westens für die Ukraine in den letzten zwei Jahren und der ständigen Forderung, daß der Rest der Welt diesem Beispiel folge, 85% der Weltbevölkerung in Ländern lebt, die keinerlei Sanktionen gegen Rußland verhängt haben. Er fragt rhetorisch: „Bedeutet das eine Isolierung Rußlands? Oder das Gegenteil?“
Abschließend schreibt Mahbuhani: „All dies deutet darauf hin, daß in der Welt etwas Tiefgreifendes vor sich geht – eine Art metaphysische Loslösung des Westens vom Rest. Während viele Menschen im Rest der Welt früher einmal im Westen die Antwort auf ihre Probleme sahen, erkennen sie nun, daß sie ihren eigenen Weg finden müssen.“
Was im Westen fehlt, sind Staatsmänner, die eine Politik für reale wirtschaftliche Entwicklung betreiben können, die auf der Anhebung des kulturellen und wissenschaftlichen Niveaus der Bevölkerung beruht. Präsident Biden sollte sich in dieser Lage an die Haltung seines Vorgängers Präsident Dwight D. Eisenhower erinnern. Nur drei Monate nach seinem Amtsantritt hielt Eisenhower am 16. April 1953 vor dem Hintergrund seiner Bemühungen um einen Waffenstillstand im Koreakrieg vor amerikanischen Zeitungschefs eine Rede über „Die Chance auf Frieden“. Darin bekräftigte Eisenhower seine Überzeugung, daß man die Fabriken, die für den Krieg produzierten, auf zivile Produktion umstellen könne, um Güter für den Bedarf der Menschen und des Friedens herzustellen. Er sagte:
„In diesem Frühjahr 1953 bewegt die freie Welt eine Frage mehr als alle anderen: die Chance auf einen gerechten Frieden für alle Völker. Wenn man diese Chance abwägt, erinnert man sich sofort an einen anderen Moment großer Entscheidungen der letzten Zeit. Er kam mit jenem noch hoffnungsvolleren Frühling 1945, der von der Verheißung des Sieges und der Freiheit erstrahlte. Die Hoffnung aller gerechten Menschen war auch damals ein gerechter und dauerhafter Frieden. In den acht Jahren, die seitdem vergangen sind, ist diese Hoffnung ins Wanken geraten, hat sich verdunkelt und ist fast erloschen. Und der Schatten der Angst hat sich wieder dunkel über die Welt gelegt...
Was kann die Welt oder irgendeine Nation hoffen, wenn man auf diesem furchtbaren Weg keine Umkehr findet? Das Schlimmste, das zu befürchten ist, und das Beste, das zu erwarten ist, ist einfach gesagt. Das Schlimmste ist ein Atomkrieg. Das Beste wäre folgendes: ein Leben in ständiger Angst und Spannung; eine Rüstungslast, die den Reichtum und die Arbeitskraft aller Völker aufzehrt; eine Kraftverschwendung, die dem amerikanischen System oder dem sowjetischen System oder irgendeinem System versagt, wahren Reichtum und Glück für die Völker dieser Erde zu erreichen. Jedes Geschütz, das gebaut wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel läuft, jede Rakete, die abgefeuert wird, bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die hungern und nicht ernährt werden, an denen, die frieren und nicht gekleidet werden.
Diese hochgerüstete Welt gibt nicht nur Geld aus. Sie verschwendet den Schweiß ihrer Arbeiter, das Genie ihrer Wissenschaftler, die Hoffnungen ihrer Kinder. Ein moderner schwerer Bomber kostet so viel wie jeweils eine moderne Backsteinschule in mehr als 30 Städten. Wie zwei Elektrizitätswerke, deren jedes eine Stadt mit 60.000 Einwohnern versorgt. Wie zwei gute, voll ausgestattete Krankenhäuser. Wie etwa 50 Meilen Autobahn. Wir zahlen für ein einziges Kampfflugzeug mit einer halben Million Scheffel Weizen. Wir bezahlen einen einzigen Zerstörer mit neuen Häusern, in denen man mehr als 8000 Menschen unterbringen könnte...“
Eisenhower schließt: „Der Hunger nach Frieden ist in den Herzen aller Völker – in denen Rußlands und Chinas nicht weniger als in denen unseres Landes. Sie sind wie wir der festen Überzeugung, daß Gott die Menschen geschaffen hat, um die Früchte der Erde und ihrer eigenen Arbeit zu genießen, und nicht, um zu zerstören. Sie streben danach, den Menschen die Last der Rüstung und der Angst vom Rücken und vom Herzen zu nehmen, damit sie in ein Goldenes Zeitalter der Freiheit und des Friedens eintreten.“
Vor dem Hintergrund dieser Worte sollten sich unsere Regierungen eine Bronzeskulptur am Sitz der Vereinten Nationen in New York ansehen. Sie zeigt einen Mann, der ein Schwert zu einer Pflugschar schmiedet. Sie verkörpert das, was man auch in den meisten Friedensappellen, u.a. bei der UN-Abstimmung über den Waffenstillstand, schmerzlich vermißt: Frieden ist in einem ganz fundamentalen Sinne reale wirtschaftliche Entwicklung. Lyndon LaRouches „Oasenplan“ setzt das konkret um, was Jesaja mit seinem Aufruf „Schwerter zu Pflugscharen“ fordert.