Ein Hintergrundartikel von Karel Vereycken, Solidarite et Progres, Paris
Am 9. Juli stürmte in Colombo, der Hauptstadt der Demokratischen Sozialistischen Republik Sri Lanka, nach monatelangen Protesten und Demonstrationen eine Menschenmenge den Präsidentenpalast und zwang das Staatsoberhaupt zum Rücktritt.
Der ehemalige Premierminister Ranil Wickremesinghe, Vorsitzender der Nationalen Partei, übernimmt nun die Interimspräsidentschaft. Das Parlament hat rechtlich einen Monat Zeit, um seinen Nachfolger zu wählen, aber der Parlamentspräsident hat eine Entscheidung bis Ende der Woche versprochen. Dieses Versprechen könnte schwer einzuhalten sein, da niemand im Parlament in der Lage zu sein scheint, genügend Unterstützung aufzubringen.
In den sozialen Netzwerken kursieren Bilder von lächelnden Demonstranten, die sich im Pool des Präsidentenpalastes abkühlen. Und ich muss zugeben, bei der Hitze dieser Tage in Europa ist das wirklich verlockend!
Werfen wir einen genaueren Blick auf die Ereignisse, die zum Bankrott des einstigen Landes mit mittlerem Einkommen geführt haben.
Sri Lanka, eine Insel mit 22 Millionen Einwohnern südlich des indischen Festlandes, direkt an der wichtigsten Seehandelsader zwischen Ost und West gelegen, befindet sich in der schwersten wirtschaftlichen und politischen Krise seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1948.
Der 73-jährige Präsident Gotabaya Rajapaksa, der inzwischen vom Volk aus seinem Präsidentenpalast vertrieben wurde, wurde 2019 gewählt. Er ist der Bruder des ehemaligen Präsidenten Mahinda Rajapaksa, 76, dem Oberhaupt der mächtigen Familie, der bis Mai das Amt des Premierministers innehatte.
Mahinda Rajapaksa, der von 1970 bis 1977 und erneut 1989 dem Parlament angehörte, bevor er in den 1990er Jahren Minister und dann Premierminister (2004-2005) wurde, wurde für zwei Amtszeiten (2005-2015) zum Präsidenten der Republik gewählt, bevor er im Oktober 2018 erneut Premierminister wurde. Danach trat er erneut zurück, wurde aber im darauffolgenden Jahr ein weiteres Mal Premierminister, nachdem sein Bruder Gotabaya Rajapaksa im November 2019 zum Präsidenten der Republik gewählt worden war.
Mahinda wird von der singhalesischen Bevölkerungsmehrheit dafür verehrt, dass er 2009 die tamilischen Tiger-Guerillas zerschlug und damit einen 37-jährigen Bürgerkrieg beendete. Sein Bruder Gotabaya war sein oberster Leutnant, der den einflussreichen Posten des Sekretärs des Verteidigungsministeriums innehatte und die Streitkräfte und die Polizei kontrollierte. Als dieser Präsident wurde, belohnte er Mahinda, indem er ihn zum Premierminister ernannte.
Weniger bekannt ist, dass Mahinda Arbeitsminister in der Regierung Sirimavo Bandaranaike (1916-2000) war, der ersten demokratisch gewählten weiblichen Regierungschefin und auch der einzigen bis zur Wahl Indira Gandhis zur Premierministerin Indiens im Jahr 1966. Nach einem langen Kampf gewann sie 1970 die Wahlen und wurde zu einer wichtigen Figur in der Bewegung der Blockfreien, die enge Beziehungen zu China und Indira Gandhi entwickelte.
Als Fischereiminister in der Regierung Bandaranaike (1994-97) gründete Mahinda die Universität für Ozeanographie und eine Küstenwache. Er initiierte den Bau eines neuen Hafens in Hambantota, ein Projekt, das offensichtlich das Interesse Chinas weckte, vor allem seit 2013, als China auf der Suche nach Relaishäfen entlang seiner maritimen Seidenstraße war. Seit 2007 hat China dort einen Tiefseehafen gebaut, um seinen Öltankern zu ermöglichen, die strategische Route von China zum Persischen Golf anzulaufen.
Im Januar 2019 hatte China ein weiteres Großprojekt in dem Land abgeschlossen. Die von dem chinesischen Riesen Communications Construction Company (CCCC) für insgesamt 1,4 Milliarden Dollar betriebene "Port City" ist ein Projekt für einen Immobilien- und Hafenkomplex in der Nähe der Hauptstadt Colombo, der sich über 2,7 km2 am Meer erstreckt.
Die französische Wochenzeitung Le Point erinnert daran: "Dieses Projekt, das während der Amtszeit des ehemaligen Präsidenten Mahinda Rajapaksa in Angriff genommen wurde, der eine energische Annäherung an China eingeleitet hatte, hat die Ängste vor chinesischen Ambitionen im Indischen Ozean geschürt, wobei Indien besonders besorgt darüber ist, dass Peking die strategische Infrastruktur vor seiner Haustür kontrolliert."
Im Jahr 2019, Monate vor der spektakulären Hinwendung des Präsidenten zum "ökologischen Landbau", haben zwei Faktoren das Land in die Knie gezwungen, das im Rahmen der finanziellen Globalisierung den Sirenen des "Washington Consensus" nachgegeben hat. Es konzentrierte sich hauptsächlich auf den Massentourismus und - trotz eines sehr vielfältigen landwirtschaftlichen Potenzials - auf eine Agrarindustrie, die hauptsächlich auf Monokulturen wie Tee ausgerichtet ist und vor allem darauf abzielt, ausländisches Geld zu sammeln, um im Ausland alles zu kaufen, was im Inland benötigt wird.
Noch vor Gotabayas Wiederwahl im November 2019 erlitt die für die Wirtschaft der Insel lebenswichtige "Tourismusindustrie" nach den dschihadistischen Anschlägen auf Kirchen und Hotels im April 2019 (279 Tote, darunter 45 Ausländer) einen schweren Schlag.
Um den Sektor zu retten, gewährte Gotabaya die größten Steuersenkungen in der Geschichte der Insel, was die Staatskasse nicht unbedingt füllte. Als "Sahnehäubchen" kam dann noch die Coronavirus-Pandemie auf die Weltbühne, die den Tourismus auf der Insel weiter schädigte.
Über Nacht brachen die Devisenreserven von 7,5 Milliarden Dollar im November 2019 auf 1,9 Milliarden Dollar im März 2022 ein. Da die Rating-Agenturen das Land 2020 herabstuften, hatte Sri Lanka keinen Zugang mehr zu den internationalen Finanzmärkten! "Koste es, was es wolle" [Macrons Politik zur Bekämpfung der Pandemie] gilt nicht für Länder, die zu offen für chinesische Projekte sind!
Trotz der Hilfe Indiens und anderer Länder geriet das Land im April 2022 mit seinen Auslandsschulden in Höhe von 51 Milliarden Dollar in Verzug und beantragte beim Internationalen Währungsfonds ein Rettungspaket.
Ohne politische Unterstützung von außen und mit ungünstigen Machtverhältnissen weigerte sich die Regierung, die vom IWF vorgeschlagene Sparpolitik im Gegenzug zur Umstrukturierung der Auslandsschulden zu akzeptieren. Sri Lanka weigerte sich auch, mit China zu brechen, dem die Mainstream-Medien vorwerfen, das Land mit "pharaonischen" Infrastrukturprojekten in eine "Schuldenfalle" geführt zu haben, obwohl der Anteil Chinas nur 10 % beträgt.
In seiner Panik verschuldete sich der Staat weiter, schnallte den Gürtel enger und kürzte die Importe, von denen die Realwirtschaft der Insel abhängt. Die Verknappung von Medikamenten, Treibstoff, Gas und sogar importierten Lebensmitteln wie Käse und Milch führte zu einer Explosion der Inflation und zur Verärgerung der Bevölkerung. Wegen der Schulden, so sagen uns die Wirtschaftswissenschaftler (ohne zu sagen, wofür diese verwendet wurden), verlor die srilankische Rupie in den letzten drei Monaten die Hälfte ihres Wertes gegenüber dem Dollar, was alle importierten Waren noch teurer machte, ein Rückgang, der durch ungezügelte Börsenspekulationen noch verstärkt wurde.
Um die Importe weiter zu senken, vollzog die Präsidentschaft im April 2021 ohne die geringste Rücksprache eine 180°-Wende in der Landwirtschaft. In Ermangelung von Devisen beschloss der Präsident, die Einfuhr von Düngemitteln im Wert von 400 Millionen Dollar pro Jahr zu reduzieren. Zur Rechtfertigung seiner Entscheidung berief er sich auf die Gefahr von Agrochemikalien für die Bevölkerung, die ein echtes Problem für die öffentliche Gesundheit des Landes darstelle.
Sri Lanka verkündete sogar stolz, dass es das erste Land der Welt sei, in dem die Landwirtschaft zu 100 % biologisch betrieben wird... Die Nachricht sorgte international für Schlagzeilen, und Umweltschützer begrüßten diese Entscheidung, die in einem Land mit einer relativ bescheidenen Wirtschaft umso mutiger erschien. Vandana Shiva, eine indische Autorin und Umweltaktivistin, die für ihren Kampf gegen GVO bekannt ist, rief dazu auf, die Regierung Sri Lankas auf ihrem "Weg zu einer Welt ohne Gift und für einen gesunden Planeten" zu unterstützen.
Dieser Übergang, der laut der Umwelt- und Gesundheitspolitik der Regierung ursprünglich innerhalb von 10 Jahren hätte vollzogen werden sollen, entwickelte sich zu einem Albtraum für die Landwirte, deren Ernten schwanden. Insbesondere das Verbot der Einfuhr von Pestiziden und Düngemitteln im Jahr 2021 hatte verheerende Auswirkungen auf die Landwirtschaft.
Im 1. Quartal 2022:
--Die Reisernte bricht um 33% ein, mit direkten Folgen für mehr als zwei Millionen Sri Lanker (25% der arbeitenden Bevölkerung), die in der Reisproduktion tätig sind. Das Land, das sich bisher selbst versorgen konnte, muss nun Reis importieren;
-Tee machte 12 % der Ausfuhren aus und hatte einen Wert von 1,2 Milliarden Dollar für die Volkswirtschaft. Die Produktion ging innerhalb eines Jahres um 40 % zurück.
Der Schock war so groß, dass sich die Erzeuger massenhaft erhoben und im November 2021 die Aufhebung der Maßnahmen erreichten.
US-Außenminister Antony Blinken machte sofort Russlands Beschränkungen für ukrainische Getreideexporte als Ursache für die Unruhen in Sri Lanka verantwortlich, statt das bankrotte neoliberale Modell der Finanzglobalisierung.
Die galoppierende Inflation (55 % allein im Monat Juni) macht die wenigen noch verfügbaren Produkte für einen großen Teil der Bevölkerung unerschwinglich. Einigen Wirtschaftswissenschaftlern zufolge ist die Situation noch viel schlimmer. Steve Hanke von der Johns Hopkins University schätzt die Zahl auf 128 Prozent, womit das Land im Preisindex den zweiten Platz hinter Simbabwe (365 Prozent) einnehmen würde.
In ihrem verzweifelten Bemühen um das Überleben des Landes hat die srilankische Zentralbank am 7. Juli die Zinssätze um einen Prozentpunkt auf 15,5 Prozent erhöht, den höchsten Stand seit 20 Jahren. Und das, obwohl die Verbraucherpreise im letzten Jahr um 55 % gestiegen sind, bei Lebensmitteln sogar um 80 %!
Die Vereinten Nationen (UN) warnten, dass das Land von einer schweren humanitären Krise bedroht sei, da mehr als drei Viertel der Bevölkerung bereits ihre Nahrungsaufnahme reduzieren mussten.
Die Vereinigten Staaten ihrerseits, die Milliarden für die Produktion und Lieferung von immer tödlicheren Waffen an die Ukraine bereitstellen, haben die künftige neue Führung Sri Lankas aufgefordert, "schnell zu handeln", um die wirtschaftliche Stabilität wiederherzustellen und die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu besänftigen...
Man fühlt sich an Marie-Antoinette während der Französischen Revolution erinnert: „Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen.“
https://multipolarista.com/2022/07/11/debt-trap-sri-lanka-west-china/
Die Vorgänge in Sri Lanka müssen zum Weckruf für eine grundlegende Wende und ein internationales Neues Bretton-Woods-Kreditsystem werden!
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