Von Alexander Hartmann
Schon im November 2021 – lange vor dem Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine und der daraufhin gegen Rußland verhängten Sanktionen – warnten wir unsere Leser, aufgrund der Folgen des Gaspreisschock-Schwindels drohe uns allen, daß wir „an Weinachten frieren und im Frühjahr hungern“ (vgl. Neue Solidarität 44/2021). Seither haben die europäischen Entscheidungsträger jede Gelegenheit genutzt, die Produktion in Industrie und Landwirtschaft noch weiter zu drosseln und so die Preise für Produzenten und Verbraucher immer weiter in den Himmel zu treiben.
Anstatt sich dieser europäischen Politik wirksam zu widersetzen, macht die deutsche Regierung mit und versucht, die Bevölkerung durch finanzielle Trostpflaster ruhigzustellen, die am Ende natürlich die Bevölkerung selbst bezahlen wird und die auch nicht ausreichen werden, die hyperinflationären Folgen der Verknappungs- und Spekulationspolitik aufzufangen.
Die Folgen dieser Politik schlagen sich inzwischen auch schon in den Handelsbilanzen nieder – und das nicht nur in Deutschland. Die Handelsbilanz der großen europäischen Länder ist in den ersten sechs Monaten des Jahres dramatisch eingebrochen, aus „Exportchampions“ wurden Exportdefizitländer.
In Deutschland, der größten Volkswirtschaft der EU, gingen die Exporte um 13% zurück, während die Importe um 27% stiegen. Der Handelsbilanzüberschuß sank im Vergleich zum Vorjahr von 96 auf 36 Mrd. €. Die Energieeinfuhren aus Rußland schrumpften um 24%, aber die Kosten stiegen um 51%.
Frankreich, die zweitgrößte Volkswirtschaft, verzeichnete ein Handelsbilanzdefizit von 71 Mrd. €, ein Anstieg um 39% gegenüber dem zweiten Halbjahr 2021. Italien, die zweitgrößte produzierende Wirtschaft der Eurozone, erlitt das erste Handelsdefizit seit zehn Jahren mit -13 Mrd. €, gegenüber einem Plus von 29 Mrd. € im ersten Halbjahr 2021.
Der gemeinsame Faktor der schlechteren Handelsbilanz sind die steigenden Energiekosten. Obwohl die Einfuhren aus Rußland mengenmäßig zurückgingen, nahmen ihre Kosten und ihre Auswirkungen auf die Handelsbilanz zu. Gleichzeitig wurden russische Gasimporte durch teureres Flüssiggas (LNG) ersetzt. Auch die Abwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar trug dazu bei, importierte Energie zu verteuern. Angesichts solcher Zahlen könnte man von den europäischen Regierungen wirksame Gegenmaßnahmen erwarten. Doch bisher geschieht nichts.
Der deutsche Fall ist angesichts des wirtschaftlichen Gewichts des Landes besonders beunruhigend. Aber nach wie vor behauptet Berlin, der Green Deal zum kompletten Umstieg auf „Erneuerbare“ (Sonne, Wind, Biomasse) sei die richtige Strategie, und bei Problemen stünden „Alternativen“ zum russischen Gas zur Verfügung, wie LNG aus den USA. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat zwar eine vorübergehende Wiederbelebung von Kohlebergbau und Kohleverstromung zur Überbrückung von Versorgungslücken angekündigt, aber den Worten folgten keine konkreten Maßnahmen.
Aus dem grünen Lager kommen sogar noch drastischere Forderungen. Das grüne Wirtschaftsforschungsinstitut „ECONtribute“ fordert, daß die privaten Verbraucher den Hauptanteil an der Reduzierung des Gasverbrauchs übernehmen sollen, damit Deutschland „auch ohne russisches Gas durch den Winter kommt“. Es bestehe kein Grund zur Panik, sagt Institutsleiter Moritz Kuhn, Professor und Mitglied des Instituts für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn, fügt aber hinzu: „Wir werden es nur schaffen, wenn wir jetzt entsprechend handeln.“
Dazu müsse Deutschland seinen Gasverbrauch in der kommenden Heizperiode um etwa 25% reduzieren. „Es wäre möglich gewesen, bereits im Frühjahr mit Anpassungsmaßnahmen und wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu reagieren“, so Kuhn, so daß insgesamt mehr Zeit zur Verfügung gestanden hätte, um Gas in der Stromerzeugung, der Gebäudeheizung und der Industrie einzusparen und zu ersetzen.
Angesichts der immer bedrohlicheren Entwicklungen und der Uneinsichtigkeit der Ideologen in der Regierung ist es keine Überraschung, daß sich immer mehr Widerspruch gegen die hyperinflationäre „Schocktherapie“ regt, die uns im Namen des Kampfs gegen den Klimawandel und des Kampfs gegen Rußland auferlegt wird. Vertreter des Mittelstands und der Industrie melden sich zu Wort, Landwirte, Handwerker und andere organisieren Demonstrationen.
Ein Beispiel hierfür ist ein „Brandbrief an Bundeskanzler Scholz“, in dem überwiegend ostdeutsche Mittelständler ein Umdenken bei den Rußland-Sanktionen fordern. Sie sehen die Wirtschaft in großer Gefahr, berichtet der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR): „,Herr Scholz, halten Sie inne und machen Sie eine Politik, mit der wir leben können und nicht untergehen‘ – mit diesem eindringlichen Appell fordern die im Verein Zentralkonsum eG zusammengeschlossenen mittelständischen Unternehmen die Bundesregierung auf, ,die Embargopolitik gegenüber Rußland neu zu justieren‘.“
Der Verband ist der Dachverband der ostdeutschen Konsumgenossenschaften, deren Mitgliedsunternehmen nach eigenen Angaben fast 6300 Menschen beschäftigen. Zu den Unterzeichnern des offenen Briefes, worin der Regierung „ideologische Verklemmtheit“ vorgeworfen wird, gehören auch prominente Restaurants wie das Berghotel Oberhof und der Dorotheenhof Weimar.
In dem Brief heißt es: „Mit den staatlich angeordneten Maßnahmen werden jegliches eigenverantwortliche Handeln branchenübergreifend unterbunden, jahrelanges Wachstum und Investitionen, auch in den Schutz der Umwelt und des Klimas, ad absurdum geführt. Die Kostenseite explodiert, die Einnahmenseite schrumpft. Das Einsparpotential ist ausgereizt. Fördermittel stehen nicht oder nur beschränkt zur Verfügung. Die beschlossenen Maßnahmen unterminieren die Existenz der Unternehmen mit nicht wieder gut zu machendem Schaden für Mitarbeiter, Kunden sowie Genossenschaftsmitglieder.
Die Verfasser appellieren aus Sorge um ihre Unternehmen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie deren Familien dringend, die Embargopolitik gegenüber Rußland neu zu justieren. Reaktion ruft immer Gegenreaktion hervor, dies ist – entgegen anfangs geäußerter gegenteiliger Annahmen bzw. Aussagen – eine logische Konsequenz. Die Sanktionen sollen Putin treffen, nicht aber den deutschen Mittelstand ruinieren.“
In einem Interview mit dem MDR erklärte Martin Bergner, Vorstandssprecher des Verbandes: „Alle Gaslieferungen zu stoppen und die deutsche Wirtschaft vor Preissteigerungen zu stellen, bei denen niemand mehr rentabel produzieren kann, geht nicht.“ Es müsse ausreichend Gas importiert werden, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Auch die bestehenden Atom- und Kohlekraftwerke müßten die Versorgungssicherheit gewährleisten.
Auch DIHT-Vizepräsident Klaus Olbricht warnte in einem Interview in Tichy’s Einblick: „Wir halten trotz der größten Energiekrise und obwohl wir die modernsten Kohlekraftwerke der Welt haben, am Kohleausstieg fest. Aus ideologischen Gründen, wohlgemerkt. Wollen wir unsere Volkswirtschaft nicht an die Wand fahren, brauchen wir jetzt eine sichere und bezahlbare Energieversorgung“, sonst werde „Deutschland als Industrienation schon bald keine Rolle mehr spielen“. Er forderte ein radikales Umdenken der Politik: „Wollen wir in diesem Verteilungskampf nicht unterliegen, müssen die Bundesregierung – und auch die EU-Kommission – Denkverbote über Bord werfen und längst fällige Reformen anstoßen, damit wir konkurrenzfähig bleiben… Wir sollten in Deutschland nicht nur eine Laufzeitenverlängerung erwägen, sondern uns auch Gedanken machen, ob wir neue Kraftwerke planen, so wie es auch andere Industrienationen praktizieren.“
Helga Zepp-LaRouche kommentierte Olbrichts Äußerungen in ihrem Internetforum am 18. August:
„Das ist sehr gut: Das ist das erste Mal – und darauf habe ich gewartet –, daß ein führender Industrieller tatsächlich sagt, was jeder sehen kann: … daß Wirtschaftsminister Habeck und Außenministerin Baerbock und alle diese Leute, die offensichtlich keine Ahnung haben, was eine moderne Wirtschaft ist, … dabei sind, mit ihren Sanktionen und ihren grünen Vorgaben die deutsche Wirtschaft an die Wand zu fahren.
Und es gibt einen wachsenden Widerstand dagegen, von den Landwirten – die sind jetzt in der Ernte und deshalb weniger auf der Straße als sonst; trotzdem gab es am 15. August eine große Demonstration in Bonn, wo immer noch das Landwirtschaftsministerium ist. Am 28. August wird es eine große Demonstration in Dessau geben, wo Handwerker sagen: Nein zu den Sanktionen, öffnet Nord Stream 2, beendet die verrückte Politik gegen Rußland.“
Sie betonte: „All diese Dinge sind legitim: Es sind Bauern, die die Lebensmittel produzieren. Auch der Chef des Verfassungsschutzes muß essen, und die Lebensmittel, die er ißt, fallen nicht vom Himmel, sondern sie werden von den Bauern produziert. Die Bauern haben das absolute Recht zu verlangen, daß sie das Recht haben, ihre Arbeit zu machen, nämlich Landwirtschaft! Das gleiche gilt für die kleine und mittlere Industrie und so weiter.“
Sie wies Versuche, diese Proteste schon im voraus in die kriminelle Ecke zu rücken, entschieden zurück: „Jetzt hat sich der Chef des Verfassungsschutzes geäußert und gesagt: ,Ja, das wird ein heißer Herbst, und alle möglichen extremistischen Organisationen planen, das zu übernehmen.‘ Und der Innenminister von Nordrhein-Westfalen sagte: ,Das ist alles russische Propaganda.‘ Aber es ist keine russische Propaganda. Vielleicht werden einige rechtsextreme Elemente dabei sein, aber man löst das Problem nicht, indem man den Protest dagegen präventiv kriminalisiert! Korrigieren Sie die Politik! Dann würde es keine Proteste auf der Straße geben.“