06131-237384info@bueso.de

Tremonti: Kehren wir zu Hamiltons Ökonomie zurück!

[i]Der frühere Finanzminister Giulio Tremonti, jetzt stellv. Vorsitzender der Partei Forza Italia und Vizepräsident des italienischen Abgeordnetenhauses, hielt am 6. Juni bei der EIR-Konferenz über „Marktradikalismus oder New Deal“ die folgende Rede.[/i]

Die Art, wie die Politik heute organisiert und diskutiert wird, bietet uns viele Gelegenheiten zum Disput, und nicht viele Gelegenheiten, Kontaktpunkte zu finden. Vielen Dank für diese Gelegenheit; es ist immer wichtig, die Ideen anderer Menschen anzuhören. Es ist interessant, die Ideen von Herrn LaRouche anzuhören, und es ist interessant, die Ideen von Herrn Gianni [dem stellv. Minister für wirtschaftliche Entwicklung] zu hören, besonders, wenn er seine Ideen äußert, und nicht meine.

Was kann ich in wenigen Minuten sagen? Zunächst einmal: Ich habe die Tiefe der Ansichten in LaRouches Magazin [i]EIR[/i] immer geschätzt, die faszinierende Natur der Analysen und auch die historische Orientierung. Wir lesen nicht oft Dokumente, die weitreichende Szenarien im großen Maßstab darstellen, wovon wir gerade ein Beispiel gehört haben. Wir lesen auch nicht oft Dokumente, in denen wir wichtige Zitate aus der Geschichte finden - einer Geschichte, die im wesentlichen eine europäische ist, denn bis vor ein paar Jahrhunderten war die Geschichte europäisch und nicht amerikanisch. LaRouche begann, indem er sich auf die große Krise vor einigen Jahrhunderten in Europa bezog, und er leitete daraus bestimmte Ähnlichkeiten und Aussichten ab. Dann hörte ich auch Herrn Gianni.

Ich sehe die Dinge so: Wir leben definitiv in einer Zeit, die nicht gewöhnlich ist. Wir leben in einer Zeit, in der wir unter der scheinbaren Fortsetzung der Normalität Anzeichen für Brüche, potentielle Krisen und dramatische Transformationen sehen. Ich stimme mit der historischen Rekonstruktion nicht überein - aber ich denke, das ist eher marginal. Ich habe in meinen Schriften, in meinen Büchern eine etwas andere Sicht veröffentlicht. Ich glaube, daß die Transformationen, die sich in der Welt vollzogen haben, weniger die 70er und mehr das Ende der 80er Jahre betreffen: der Fall des politischen Systems, das die Welt blockierte, das Aufkommen der Computer, die Transformationen, die sich dadurch in der Struktur und in der Verteilung des Wohlstands ergaben.

Ich erinnere mich, daß mir von allem, was ich geschrieben habe, vor allem ein Artikel am Herzen lag, den ich im Juli 1989 für [i]Corriere della Sera[/i] verfaßt habe. Es war aus Anlaß des 200. Jahrestages der Französischen Revolution, und mein Artikel besagte ungefähr folgendes: So wie 1789 das Jahr war, in dem der Bau der politischen Maschine des Nationalstaates begann, so wird dieses Jahr der symbolische Anfang - bedenken Sie, daß der Juli vor dem November kommt, wir uns also noch vor dem Fall der Berliner Mauer befinden - der außerparlamentarischen Revolutionen sein, ausgelöst durch eine Kaskade von Phänomenen im Zusammenhang mit der Struktur des Reichtums und der Krise des Nationalstaats, der das Monopol über den Reichtum verliert.

Es gab eine Zeit, in der der Nationalstaat den Reichtum kontrollierte, indem er das Territorium kontrollierte. Dadurch, daß er den Reichtum kontrollierte, übte er politische Macht aus; er hatte das Monopol über Gesetze, Steuern und die Justiz.

Der Reichtum wurde von der physischen Produktion abgekoppelt und verwandelte sich in bloß finanziellen Reichtum. Ich erinnere mich, daß damals das Bild verwendet wurde, die alte, grundlegende Kette der Politik, Staat-Territorium-Reichtum, sei zerbrochen worden; der Staat behält und kontrolliert das Territorium, aber er kontrolliert nicht mehr den Reichtum und verliert daher seine Macht. Dieser Prozeß wurde in Kontinentaleuropa durch den Bau Europas [der Europäischen Union, d.Red.] beschleunigt. Ich betrachte daher das Jahr 1994, als die WTO (Welthandelsorganisation) gegründet wurde, als das wichtigere Datum. Es war kein Zufall, daß die [Idee der] WTO etwa 1989 aufkam.

Raum für Optimismus

Ich schrieb ein Buch, in dem ich die Ereignisse und die verschiedenen Mechanismen der Reaktion und Entwicklung in Fünf-Jahres-Zeiträume einteilte - fünf Jahre von 1989 bis 1994, fünf Jahre von 1994-1999/2000. Kurz, wir leben mit Sicherheit in einer Zeit - wenn ich einmal in einem Bild sprechen darf: Es ist, als bräche die alte europäische Ordnung mit dem Aufkommen der atlantischen Gebiete auseinander, und das Zeitalter des Barock wurde auch [i]mundi furiosis[/i] genannt. Wir leben also in einer Periode, in der die alte Ordnung durch die über sie hinweglaufenden Strukturen und Ereignisse in gewisser Weise zerbricht, und in der die Vision, das Management dessen, was auf uns zu kommt und was wir sehen, objektiv gesehen ziemlich problematisch ist.

Ich bin aber anderer Meinung. Wie soll ich es sagen? Ich denke, es gibt Raum für weniger katastrophale Ansichten, Ansichten, die optimistischer sind, und daß die Werkzeuge, die zum Einsatz kommen können, vielleicht auch andere sein können als die, die vorgeschlagen wurden. Aber wir sind uns einig, um es noch einmal zu wiederholen, in der Idee, daß wir in einer Welt leben, die nicht normal ist, nicht gewöhnlich, in der sich Änderungen und Wirkungen vollziehen, die wir noch sehen werden.

Wie soll ich enden? Indem ich Elemente - nicht einer Identität, aber einer potentiell gemeinsamen Vision suche. Ich habe die Formel „Markt, wo möglich, Regierung, wenn nötig“ schon immer für richtig gehalten. Das schließt eine dogmatische Qualifikation, wie sie mir Herr Gianni soeben zugewiesen hat, nach der Art „Sie glauben an...“ aus. Ich glaube, daß es empirisch möglich ist - und ich danke Ihnen, Herr Gianni, dafür, daß Sie mir die Gelegenheit dazu verschafft haben -, ich glaube, daß es Kombinationen außerhalb der üblichen Schemen und Kombinationen gibt, die möglich sind - außerhalb der derzeit vorherrschenden Kultur, die ich mir erlaube, die „marktistische“ zu nennen, worunter ich den Marktismus als Synthese der schlimmsten Aspekte des Liberalismus und des Kommunismus verstehe.

Schwierigkeiten kultureller Art

Ich will Ihnen zwei Beispiele für eine Politik nennen, die nach dieser Logik möglich wäre. Die eigentliche Schwierigkeit ist kultureller Art; d.h., man muß Hindernisse überwinden, die nicht physischer oder wirtschaftlicher Art sind... 2003, während des Halbjahres, als Italien die rotierende Präsidentschaft Europas innehatte, machte ich den Vorschlag, den alten Delors-Plan neu aufzulegen. Der Delors-Plan forderte die Ausgabe europäischer Anleihen zur Finanzierung der europäischen Infrastruktur. Mitte der 90er Jahre, als diese Idee erstmals vorgeschlagen wurde, stieß sie auf kulturelle Grenzen und Hindernisse. Als ich sie 2003 erneut vorstellte, waren die Hindernisse inhaltlich anderer Art, aber ähnlich im Sinne des kulturellen Trends. Ich erinnere mich, daß der intelligenteste Einwand von Gordon Brown kam, dem britischen Schatzkanzler. Er sagte: „schön“, interessant, aber die Ausgabe von Eurobonds bedeute, daß es dann auch einen Eurohaushalt geben muß; und ein Euro-Haushalt bedeute einen Euro-Überstaat. Nein, danke. Das war also eine politische Weigerung. Sein Land hatte eine andere Position zur politischen Konstruktion Europas.

Eine Hamiltonische Lösung

Die andere Reaktion - und ich muß sagen, sie war weniger lobenswert und schwieriger zu teilen - kam von anderen großen Staaten Kontinentaleuropas, und sie war im wesentlichen ein Einwand monetärer Art und des Bankwesens, im Kern: Wir wollen keine öffentlichen Schulden, seien es europäische oder nationale; jedenfalls keine weiteren öffentlichen Schulden.

Meine Antwort lautete, daß die Vereinigten Staaten ihren politischen Weg mit öffentlichen Schulden begonnen hatten: Hamilton. Hamilton präsentierte die amerikanischen öffentlichen Anleihen als Grundlage für den Bau einer politischen Union. Ich versuchte also zu sagen, daß ich keine finanzielle Operation vorschlüge, sondern eine politische Operation. Die Ausgabe der Eurobonds konnte europäische Pläne finanzieren, die nicht so sehr einen finanziellen Spielraum erzeugen würden, sondern vielmehr eine politische Identität für Europa.

Die Reaktion war typisch für einen Zentralbankier oder einen Mann der Wirtschaft: absolute Opposition. Gleichgültig, um wieviel Geld es ging. Beachten Sie das bitte: Wenn man die gewaltige Währungsstärke des Euro berücksichtigt, mit der Glaubwürdigkeit und dem Gewicht, die das Europäische Währungssystem hat, wäre z.B. die Ausgabe von 50 Mrd. Euro [Anleihen], die zur Finanzierung der Lissabon-Agenda notwendig wären, wirklich marginal und wirtschaftlich gesehen gar nicht von Bedeutung.

Ich versuchte zu sagen, daß die Zeit gekommen sei, die Maastricht-Dividende zu kassieren. Die Reaktion war absolut negativ, d.h., die Weigerung, in ein kulturelles Schema - wie soll man es nennen - Keynesianisch? - einzusteigen. Delors identifiziert sich selbst mit einer Keynesianischen politischen Philosophie. Ich identifiziere mich jedenfalls weiterhin damit.

Die Alternative war keine „zweitbeste“ Alternative. Vielleicht eine zweite, aber jedenfalls keine gute. Es war ein Aktionsplan für Wachstum, der in gewissem Sinne zum Teil vom Staat garantiert wurde, arrangiert von der Europäischen Investitionsbank, dem aber der protektive Geist im wesentlichen fehlte. Übrigens weiß ich nicht einmal, ob der Aktionsplan irgendwelche Fortschritte gemacht hat, ob er irgendwelche großen Infrastrukturprojekte finanziert hat.

Import der Armut

Der zweite Punkt: Ich weiß nicht, ob dies der vorherrschenden Meinung in Italien entspricht, aber 1995, im Jahr nach der Gründung der WTO, verfaßte ich ein Buch mit dem Titel [i]Der Geist der Armut.[/i] Das Kapital verläßt den Westen, geht nach Asien auf der Suche nach billigen Arbeitkräften, und Europa importiert Armut. Es importiert Armut, weil unsere alten Arbeiter-Aristokratien, unsere Lohnempfänger, Gehälter und Löhne auf dem Niveau des Ostens haben werden, während die Lebenshaltungskosten die des Westens bleiben werden. Und meine Idee waren große Investitionen in das Humankapital: die drei sogenannten „I“ - Englisch [[i]Inglese[/i]], [i]IT[/i] und Unternehmen [[i]Impresa[/i]], und die Nutzung des [staatlichen Fernsehsenders] [i]RAI[/i] für Berufsbildungszwecke. Man kann mit Chinas Muskelkraft nicht konkurrieren, man muß konkurrieren, indem man Investitionen nutzt, öffentliche Investitionen. Deshalb die politische, öffentliche Nutzung des [i]RAI [/i]als wesentliches Bildungsinstrument.

Etwas anderes, was ich später vorstellen wollte, nachdem ich gesehen hatte, was nach 2001 mit unserem Land geschah, war, Zölle und Quoten einzuführen, unter Beachtung der Europäischen Regeln und der WTO. Nicht, um die Welt aufzuhalten oder uns von ihr zu entfernen, sondern, um etwas zu verdienen, das man wieder tauschen konnte.

Ich erinnere mich und muß zugeben, daß die Idee der Zölle und Quoten von der herrschenden Klasse und politischen Klasse Italiens glattweg abgeschossen wurde. Ich hatte offen gesagt keine Solidarität von der Linken erwartet, aber ich erwartete auch nicht dieses Ausmaß an Feindseligkeit gegen eine Idee, die mir ganz vernünftig erschien. Ich sehe nun, daß es in den kulturellen Zirkeln der amerikanischen Demokratischen Partei eine Diskussion über Zölle und Quoten gibt. Die Idee mag richtig oder falsch sein, aber man kann sie nicht einfach nur [i]a priori [/i]verteufeln.

Wie soll ich schließen? Ich erinnere mich, daß eines der ersten Dinge von LaRouche, das mir auffiel, ein Dokument war, in dem von großen eurasischen Infrastrukturprojekten die Rede war, und ich sagte mir: „Vielleicht ist es unmöglich, das zu tun, vielleicht ist es die Vision eines ,Spinners’, aber normalerweise schreitet die Geschichte voran auf der Grundlage der Visionen solcher Spinner.“

Und ich muß wirklich sagen, in einem Zeitalter, in dem die Rolle der Regierungen stark eingeschränkt ist, mehr als notwendig, und in der es ein Übermaß an symbolischer Verehrung für nicht greifbaren finanziellen und immateriellen Reichtum gibt, und in der die Elemente, die trotzdem notwendig sind, wie die materielle Infrastruktur, nur beschränkt berücksichtigt werden, bin ich überzeugt davon, daß diese Art von Ideen, Ihre Ideen, verbreitet werden müssen. Die Tatsache, daß wir darüber von unterschiedlichen politischen Seiten aus sprechen, in einer Weise, die nicht [i]a priori[/i] negativ ist und nicht fanatisch, ist sicherlich sehr positiv.

Vielen Dank.

Werden Sie aktiv!

Die Bürgerrechtsbewegung Solidarität erhält ihre Finanzmittel weder durch staatliche Parteienfinanzierung noch von großen kommerziellen Geldgebern. Wir finanzieren uns ausschließlich durch Mitgliedsbeiträge und Spenden,

deshalb brauchen wir Ihre Unterstützung!

JETZT UNTERSTÜTZEN