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Wessen Wirtschaft "vernichten" die Sanktionen?

Alexander Hartmann

24. März 2022 --Die Wirtschaftssanktionen gegen Rußland werden Europas physische Wirtschaft viel stärker treffen als die meisten erwarten.  Verfolgt man die Debatte über die „vernichtenden“ Wirtschaftssanktionen gegen Rußland, wie sie von populistischen Politikern gefordert werden, zeigt sich, wie traurig es um den wirtschaftlichen Sachverstand unserer „politischen Klasse“ bestellt ist. Fast die gesamte Riege unserer führenden Politiker demonstriert in dieser Debatte, daß sie von den physischen Kausalitäten in der produzierenden Wirtschaft offenbar nur wenig Ahnung hat und deshalb die Konsequenzen der vorgeschlagenen oder bereits getroffenen Maßnahmen dramatisch unterschätzt. So erklärte beispielsweise Altbundespräsident Joachim Gauck in der ARD-Talkshow Maischberger, er könne sich einen kompletten Verzicht auf Energieimporte aus Rußland sehr gut vorstellen, die „Verluste an Wohlstand“ seien zu ertragen: „Wir können auch einmal frieren für die Freiheit. Und wir können auch einmal ein paar Jahre ertragen, daß wir weniger an Lebensglück und Lebensfreude haben.“

Tatsächlich geht es aber um sehr viel mehr als nur darum, die Heizung ein paar Grad herunterzudrehen, weil das Erdgas teurer geworden ist: Es droht ein Stillstand der produktiven Wirtschaft. Man ist versucht, polemisch die Frage zu stellen, wessen Wirtschaft denn da eigentlich vernichtet werden soll?

Es ist dringend an der Zeit, daß unsere „Wirtschaftskrieger“ anfangen, auf diejenigen zu hören, die von der Wirtschaft etwas verstehen. Wolfgang Große Entrup vom Verband der Chemischen Industrie beispielsweise wies in einer Stellungnahme zum Krieg in der Ukraine darauf hin, daß Erdgas nicht nur zum Heizen gebraucht wird:

„Allein 2,8 Mio.t setzt die chemisch-pharmazeutische Industrie als Rohstoff direkt für die Produktion ein. Mehr als das Doppelte benötigt sie für die Erzeugung von Wärme und Strom in ihren Anlagen. Sollte Gas in Europa knapp werden, weil die Lieferungen aus Rußland noch weiter eingeschränkt werden oder komplett ausfallen, könnte die Lage für energieintensive Unternehmen äußerst problematisch werden: Es drohen in diesem Fall explodierende Preise für Erdgas auf einem ohnehin historisch extrem hohen Preisniveau. Ein massiver Anstieg ist bereits in den letzten Tagen seit dem Kriegsbeginn zu verzeichnen. Nicht wenige Betriebe haben kaum noch finanziellen Spielraum oder stehen bereits wirtschaftlich mit dem Rücken an der Wand.“

Rohstoffversorgung bedroht

Tatsächlich erschüttern die massiven Sanktionen gegen Rußland schon jetzt die produzierenden Sektoren der Weltwirtschaft, besonders im Energie-, Nahrungsmittel- und Düngemittelbereich. Sollte der geopolitische Wirtschaftskrieg, wie von verschiedenen westlichen Sprechern gefordert, auch auf andere Länder ausgeweitet werden, die nicht willfährig dem westlichen Sanktionsregime folgen, wären die Konsequenzen noch gravierender, als es jetzt schon der Fall ist, denn Rußland, Kasachstan und China produzieren zusammen einen überwältigenden Anteil von 42 der wichtigsten Mineralien und Mineralienprodukte der Welt. Diese Mineralien reichen von den elementarsten (wie Bauxit, Graphit, Blei und Kupfer) über solche, die für fortschrittliche Verfahren und die Herstellung von Mikrochips benötigt werden, wie die Seltenen Erden, Titan, Silizium und Gallium (das für elektronische Schaltkreise, Halbleiter und Leuchtdioden verwendet wird), bis hin zu solchen, die für die Landwirtschaft benötigt werden, wie Stickstoff, Ammoniak und Phosphatgestein. Viele Länder, insbesondere in Europa, und die Vereinigten Staaten sind auf diese Mineralien und Güter angewiesen.

Bei 16 der 42 wichtigsten Mineralien und Erzeugnisse entfallen auf Rußland, Kasachstan und China zusammen mehr als 70% der weltweiten Produktion, darunter im Jahr 2021 83,6% der weltweit geförderten Menge von Vanadium (das in Legierungen Stahl stoß- und vibrationsfest macht und auch für Panzerplatten verwendet wird), 84,7% des Graphits, 85,5% des Wismuts, 86,6% des Wolframs, 87% des Quecksilbers, 90,8% des Asbests und 97,8% des Galliums (letzteres ist in den meisten High-Tech-Bereichen unverzichtbar). Die drei Länder fördern und/oder produzieren zusammen 36,7% des weltweiten Stickstoffs und Ammoniaks, der in Düngemitteln und Herbiziden verwendet wird, 45% des weltweiten Phosphatgesteins, das zur Herstellung von Phosphatdünger verwendet wird, und 32,6% des weltweiten Kalis, das zur Herstellung von Düngemitteln verwendet wird.

Stehen diese Rohstoffe nicht in ausreichender Menge oder nicht zu erschwinglichen Preisen zur Verfügung, drohen Stillegungen der Produktion, die sich kettenreaktionsartig in der gesamten Wirtschaft ausbreiten können.

Lieferketten sind gestört

Aber nicht nur die Rohstoffversorgung ist bedroht. Schon jetzt sind die Lieferketten der industriellen Produzenten in Europa durch Einschränkungen des Transports gestört. RT berichtet, die Eisenbahnlinien von „Gürtel und Straße“, die China mit Europa verbinden und von denen die meisten durch Rußland oder die Ukraine verlaufen, seien stark betroffen. Die Nutzung der wichtigsten Eisenbahnverbindungen von China durch Rußland, Weißrußland, Polen oder nach Kaliningrad wurde durch den Krieg und vier Sanktionswellen gegen Rußland und Weißrußland stark eingeschränkt. „Hunderte von Tankern und Massengutfrachtern wurden von den russischen und ukrainischen Häfen im Schwarzen Meer umgeleitet. Die Schiffe sitzen in den Häfen und auf See fest und können ihre Ladung aufgrund der Sanktionen nicht entladen.“

Diese Beobachtung wird von Fachleuten bestätigt. Ein von RailFreight.com und RailFreight.cn organisiertes Webinar am 16. März befaßte sich mit der Frage, „Wie die Fracht zwischen Europa und Asien auf der Bahn gehalten werden kann“. Formal sind gegen die Russische Eisenbahn keine Sanktionen verhängt worden, und Zahlungen an sie sind möglich, aber viele Unternehmen halten sich trotzdem zurück, weil sie in bestimmten Punkten einfach nicht sicher sind, z.B. in Bezug auf Versicherungen und andere rechtliche Fragen, die Entwicklung des militärischen Konflikts und den allgemeinen Druck der Öffentlichkeit, sich nicht mit russischen Unternehmen einzulassen. Außerdem ist die Bahnverbindung zwischen der Ukraine und Rußland zerstört worden, um Militärtransporte zu verhindern.

Infolge der Störung der Bahnverbindungen versuchen die Speditionen, auf die Straße auszuweichen. Aber auch hier schafft die Krise bereits erhebliche Probleme. Nach Angaben der französischen Website Actu Transport ist die Lage an der polnisch-ukrainischen Grenze, an der Autobahn zwischen Warschau und Kiew, äußerst angespannt. Dort warten 180 LKW auf ihre Weiterfahrt nach Polen, 140 sind in der Gegenrichtung blockiert. Die Wartezeit wird auf mehr als zehn Stunden geschätzt.

Eine weitere Folge der Ukraine-Krise ist, daß „bald bis zu 100.000 ukrainische Fahrer, die jetzt in ihrem Land mobilisiert [also zum Wehrdienst einberufen] werden, auf den Straßen Europas fehlen könnten. Nach Angaben des polnischen Spediteurverbands sind ein Drittel der Fahrer polnischer und litauischer Unternehmen Ukrainer, die jetzt mobilisiert wurden“. Bei einem Marktanteil dieser Unternehmen in Deutschland von 20,5% schätzt der Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL), daß bis zu 7% der in Deutschland fahrenden Fahrer fehlen könnten. „Inwieweit sich dies auf die Versorgungssicherheit in Deutschland auswirkt, ist noch nicht absehbar“, sagt Dirk Engelhardt, Vorsitzender des Verbandes.

Der Bundesverband Logistik und Verkehr (BLV) weist darauf hin, daß die Hälfte der LKW, die in der Bundesrepublik unterwegs sind, aus osteuropäischen Ländern kommen. „90% von ihnen heuern Fahrer aus der Ukraine, Weißrußland und Rußland an. Eine Verschlechterung der Sicherheitslage in der Ukraine würde zu einem Zusammenbruch des Straßenverkehrs in Deutschland führen“, sagt BLV-Sprecher Thomas Hansche.

Ende der Dollar-Vorherrschaft?

Aber die Sanktionen dürften auch noch auf andere Weise auf ihre Urheber zurückschlagen. Paul Sheard, Research Fellow am Mossavar-Rahmani Center der Harvard Kennedy School und ehemaliger Chefökonom von S&P Global, wies in der South China Morning Post darauf hin, daß die Entscheidung, Rußlands Devisenreserven einzufrieren (also praktisch zu stehlen), ein schrecklicher Fehler war. „Mit einem Schlag könnten die Vereinigten Staaten Rußland, China und andere dazu gebracht haben, den Dollar abzustoßen und Gold zu horten... Die Sanktionierung der Zentralbank eines G20-Landes und der sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt... ist ein kurzsichtiger und kontraproduktiver Schritt... Handlungen der USA, die die Kosten oder Risiken im Zusammenhang mit der Abhängigkeit vom Dollar erhöhen, gefährden den Reservewährungsstatus des Dollars, wenn sie zu einem festen Verhaltensmuster werden“, sagte Sheard.

Tatsächlich vermeldete die Financial Times am 17. März, daß die indische Zentralbank Gespräche über ein „Rupie-Rubel-Handelsarrangement“ aufgenommen hat, das es Rußland erlauben würde, trotz der Beeinträchtigung der internationalen Zahlungsmechanismen durch die westlichen Sanktionen den bilateralen Handel fortzusetzen, und Saudi-Arabien zeigt sich bereit, sein Öl gegen chinesische Yuan zu liefern.

Rußland und China wollen sogar noch weiter gehen und verhandeln bereits über die Schaffung eines vom Dollar unabhängigen Währungs- und Finanzsystems. Am 11. März fand dazu eine Videokonferenz mit Teilnehmern aus der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und China statt, wo es unter anderem um eine neue Währung ging. Der Wirtschaftsdialog hatte das Thema „Neues Stadium der monetären, finanziellen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der Eurasischen Wirtschaftsunion und der VR China, Globale Transformationen: Herausforderungen und Lösungen“. Darüber berichtete der Korrespondent des Wirtschaftsinformationszentrums Kapital.kz unter Berufung auf den Pressedienst der EAEU.

Der EAEU-Minister für Integration und Makroökonomie, der russische Ökonom Sergej Glasjew, sagte in der Konferenz: „Angesichts der gemeinsamen Herausforderungen und Risiken, die mit der globalen Konjunkturabschwächung und den restriktiven Maßnahmen gegen die EAEU-Staaten und China verbunden sind, sollten unsere Länder die praktische Zusammenarbeit sowohl auf der Ebene regelmäßiger Expertendialoge als auch im Bereich gemeinsamer Maßnahmen und Projekte intensivieren.“ Wang Wen, Dekan des RDCY-Instituts für Finanzen (Renmin Institute of China), betonte die Nähe der Positionen der EAEU-Länder und Chinas in vielen Fragen der globalen Entwicklungsagenda und sprach sich für eine Intensivierung des eurasisch-chinesischen Dialogs aus.

Als Ergebnis der Diskussion wurde beschlossen, das Projekt für ein unabhängiges internationales Währungs- und Finanzsystem voranzutreiben. Dieses soll auf einer neuen internationalen Währung basieren, die als Index der nationalen Währungen der teilnehmenden Länder und der Rohstoffpreise berechnet wird. Der erste Entwurf soll bis Ende März zur Diskussion gestellt werden.

Die Teilnehmer des Dialogs befaßten sich auch mit den praktischen Aspekten der Zusammenarbeit zwischen der EAEU und der VR China in den Bereichen Energie und Informationstechnologie, Rohstoffhandel sowie mit Maßnahmen zur Anpassung der Länder an den externen wirtschaftlichen Druck.

All dies zeigt: Die westlichen Regierungen gefährden in ihrem fanatischen Eifer, „vernichtende“ Wirtschaftssanktionen gegen Rußland zu verhängen, die wirtschaftlichen Existenzgrundlagen der eigenen Bevölkerung. Die Hitzköpfe müssen in die Schranken gewiesen werden.

Alexander Hartmann ist Landesvorsitzender der BüSo Hessen und Chefredakteur der Neuen Solidarität. Der obige Artikel erschien in der Ausgabe vom 24.3.2022 (link). Siehe auch den Beitrag im BüSo-Forum am 30. März 2022 (link Video) und den Vortrag beim Wirtschaftsseminar der BüSo am 24.5.21 "Ein Kreditsystem für den Wiederaufbau" (Video).

LINK: https://www.bueso.de/larouche-plan-fuer-neue-internationale-wirtschaftsarchitektur

 

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